Schwäbische Brücke für Asyl und Einwanderung
Pressemitteilung vom 28.01.2016
Tübingen/Schwäbisch Gmünd. In einem überparteilichen Schulterschluss mahnen sowohl der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer (Grüne) wie auch der Schwäbisch Gmünder Oberbürgermeister Richard Arnold (CDU) in der aktuellen Ausgabe der ZEIT (5/2016) eindringlich zu einer Neuorientierung der Flüchtlingspolitik.
Gerade aus Sicht der Rathaus-Chefs seien jetzt schnelle und mutige Entscheidungen gefragt; die Städte und Kommunen stünden letztlich ganz alleine vor der Alltagsherausforderung der Integration und Aufnahme der Flüchtlinge.
Beide Oberbürgermeister fordern dabei so schnell wie möglich einen Brückenschlag und die Möglichkeit eines Spurwechsels vom Asylverfahren in eine kontrollierte Einwanderungsschiene. Außerdem müssten den Städten und Kommunen bei Verfahren in der Wohnungs- und in der Sozialpolitik künftig die Schlüsselrolle – und somit auch entsprechende finanzielle Mittel – zufallen. Hier entscheide sich letztlich, ob die Integration und die Aufnahme in die Gesellschaft gelingt.
Hintergrund:
Nach dem Brandanschlag auf eine Asylbewerberunterkunft im Bau in Schwäbisch Gmünd hatten sich die Oberbürgermeister Richard Arnold und Boris Palmer zwischen den Jahren getroffen, um nach gemeinsamen Antworten auf die zunehmend schwierigere Aufgabe der Bewältigung der Flüchtlingsfrage zu suchen. Das gemeinsame Positionspapier, das dabei entstanden ist und dem Text in der ZEIT zugrunde liegt, finden Sie im Anhang.
Gemeinsames Positionspapier von OB Richard Arnold und OB Boris Palmer
Vom Asyl zur Einwanderung
Zeit für eine Agenda 2020 und eine neue Antwort auf die Flüchtlingsfrage
Die Migrationspolitik war und ist eines der am stärksten ideologisierten Themen, nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Kein Wunder, wenig verändert das eigene Lebens-umfeld mehr als andere Menschen. Ideologie ist allerdings gerade in dieser Frage ein schlechter Ratgeber. Rechte Antworten auf Migration versuchen einen Status Quo zu erhalten, der schon nicht mehr existiert. Abschottung ist im Jahrhundert der Globalisierung der Wirtschaft und des Wissens schlicht unrealistisch. Linke Antworten idealisieren die Reaktion vieler Menschen auf Fremdheitserfahrung als Bereicherung und ignorieren die aus Migration entstehenden Probleme.
Beides ist in der aktuellen Debatte über Flüchtlinge in Deutschland zu beobachten. Während von rechts außen die Schließung der Grenzen verlangt wird, feiert man links außen den Aufbruch in ein buntes und besseres Deutschland. Beides ist vor allem eines: weit weg von der Realität. Die Flüchtlinge werden weiterhin in großer Zahl kommen, sie sind bereits in siebenstelliger Zahl hier. Die Chancen dieser ungeplanten Einwanderung liegen in ferner Zukunft, während jetzt vor allem Herausforderungen zu bewältigen sind. Dies können nur die Städte und Gemeinden leisten.
Aus der kommunalen Perspektive stellt sich die Situation im Moment folgendermaßen dar: Die Zahl der Flüchtlinge ist so enorm schnell angewachsen, dass die Unterbringung nur noch in Notunterkünften gelingt. Die Länder haben derzeit keine andere Wahl, als die Flüchtlinge in Massenlagern oft mit mehreren tausend Menschen unterzubringen. Wenn die Menschen von dort in die Kommunen weiter gereicht werden, kommen sie meistens wieder in Hallen. Diese Umgebung verursacht ohne ein überlegtes und kluges Handeln Aggressivität und Gewalt. Trotzdem müssen jeden Tag neue Hallen belegt und Zeltstädte aufgebaut werden. Dies müssen wir gemeinsam anpacken und ändern.
Wohin die Flüchtlinge, die heute schon im Land sind, nach Abschluss der Asylverfahren ziehen werden, ist weithin unklar. Da das Bundesamt für Asyl nur etwas mehr als ein Drittel der Asylanträge der bereits im Lande befindlichen Flüchtlinge angenommen hat und völlig unsicher ist, wie lange es dauern wird, die Anträge zu bearbeiten, weiß heute niemand in den Kommunen, wann welche Zahl von Flüchtlingen unterzubringen ist. Denn unsere Unterbringungsverpflichtung beginnt mit dem Abschluss des Verfahrens. Ebenso ungewiss ist, welcher Anteil der Flüchtlinge ein Bleiberecht erhält und wie viele trotz Ablehnung im Land bleiben.
Wir Rathauschefs wissen, dass wir in jedem Fall in unseren Stadtgesellschaften die Menschen aufnehmen und annehmen müssen, die jetzt schon bei uns sind. Und das heißt auch, dass wir in kurzer Zeit neue Unterkünfte bauen müssen. Die Geschwindigkeit stellt ein großes Problem für die Genehmigung und Herstellung der Neubauten dar, die Zahl der Flüchtlinge führt zu einem finanziellen Problem für die Gemeinden. Das Ergebnis darf dabei auf Dauer nicht sein, dass wir – wie bisher in den meisten Fällen – schnell erstellbare Einfachst-Bauten in großen Einheiten für mehr als 100 Personen bauen, die oft weniger als zehn Quadratmeter Wohnraum pro Person bieten. Schon dieser Standard führt zu Herstellungskosten von etwa 25.000 Euro pro Flüchtling.
Wenn wir als Praktiker an der Basis nun von einer Million Menschen ausgehen, die von den Kommunen auf längere Zeit unterzubringen sind, dann bedeutet das Unterkunftsinvestitionen von 25 Milliarden Euro. Zum Vergleich: Der Bund hat im letzten Asylkompromiss eine Unterstützung der Kommunen in Höhe von 500 Millionen Euro zugesagt. Zur Betreuung der Asylbewerber ist Personal erforderlich. Viel Personal, von Leistungsgewährern über Sozialarbeiter und Standesamtsbeamten bis zu Hausmeistern. Im Schnitt wird man auf 20 Asylbewerber eine Stelle benötigen. Das sind 50.000 Stellen bundesweit, mithin Personalkosten von etwa 2,5 Milliarden Euro jährlich. In welchem Umfang darüber hinaus direkte Geldzahlungen notwendig sind, ist völlig spekulativ, denn wir wissen nicht, ob und wie schnell die Flüchtlinge Arbeit finden. Nicht zuletzt deshalb müssen wir alles tun, dass wir Flüchtlinge und Zuwanderer so schnell und so effektiv wie möglich auf eigene Beine stellen und in unsere Gesellschaft als verantwortungsvolle Teilhabende und Teilnehmende aufnehmen. Aber auch dafür braucht es zunächst eine Investition in die Zukunft.
Vor allem die ärmeren Kommunen können diese Summen nicht ohne weiteres aufbringen – nicht zuletzt deshalb, weil es für uns Verantwortlichen an der Spitze der Verwaltungen kein Thema sein kann, deshalb erhebliche Einschnitte in das bisherige soziale Netz für unsere Bürgerinnen und Bürger tragen zu müssen. Zugleich erscheint klar, dass die von den Kommunen bereit gestellten Unterkünfte die Bedürfnisse der Flüchtlinge auf Dauer nicht befriedigen und ein massives Integrationshindernis darstellen werden. In unsere Hochleistungsgesellschaft kann man sich schwer ohne privaten Rückzugsraum integrieren. Massenunterkünfte für Flüchtlinge sind eher geeignet, Banlieues zu werden als sozial integrierte Quartiere.
Deshalb müssen wir dringend die Weichen neu stellen. Und wir sind überzeugt davon, dass dieses uns in den Städten auch gelingen kann. Einfach gesagt: Da wir auf absehbare Zeit mit hohen Flüchtlingszahlen konfrontiert sind, ist die linke Annahme, es werde gelingen, sie alle vollständig in unsere Gesellschaft zu integrieren, irreal. Die rechte Schlussfolgerung, deshalb die Flüchtlinge abzuweisen, ist es genauso. Wir sind der Meinung: Die Konsequenz ist, zwischen Asyl und Einwanderung einerseits klar zu trennen und andererseits einen möglichst leichten Übergang herzustellen.
Das bedeutet einerseits klar und deutlich, aber zugleich emphatisch und mitmenschlich zu formulieren: Wir nehmen auch weiterhin Flüchtlinge in großer Zahl auf, doch ist das Nothilfe, nicht Einwanderung. Wer um sein Leben fürchtet, findet bei uns Zuflucht. Die Standards der Nothilfe sind höher als in den Krisen- und Kriegsländern, können allerdings nicht sofort nach der Ankunft alle unsere europäischen Wohlfahrtsstandards erfüllen. Diese Nothilfe ist mit dem Ziel einer Rückkehr in das Herkunftsland untrennbar verbunden, denn es kann nicht unser Ziel sein, Bürgerkriegsländer dauerhaft zu entvölkern. Konkret heißt das, der Zugang zu Sozialleistungen bleibt begrenzt, die Aufnahmestandards in den Kommen entsprechen den Ansprüchen der Nothilfe, der Barmherzigkeit und Mitmenschlichkeit. Ansprüche an einen dauerhaften wirtschaftlichen Aufstieg sind mit dieser Asylgewährung nicht verbunden.
Zugleich aber wird eine Brücke zur Einwanderung gebaut, die bisher völlig fehlt. Alle klassischen Einwanderungsländer wählen aus, wer ins Land kommen darf. In aller Regel ist dafür Qualifikation, Integrationsfähigkeit, Spracherwerb und Arbeit maßgeblich, nicht aber Religion, Hautfarbe oder ethnische Zugehörigkeit. Deutschland hat bis heute kein Einwanderungsgesetz zustande gebracht, obwohl wir Einwanderung dringend brauchen. In den nächsten Jahren gehen die geburtenstarken Jahrgänge in Rente, es fehlt jährlich eine sechsstellige Zahl an Arbeitskräften. In zahlreihen Berufen ist es schwierig, überhaupt noch Lehrlinge und Auszubildende zu finden. Hier könnte ein Spurwechsel von Asyl zu Einwanderung ansetzen: Wer es schafft, die deutsche Sprache zu erlernen und dauerhaft Arbeit zu finden, erhält als Flüchtling ein uneingeschränktes Aufenthaltsrecht in Deutschland. Dazu braucht es in den jeweiligen Quell-Ländern ein für alle Menschen klares und erkennbares System, die Einwanderungsampel: Wer die Zuwanderungskriterien erfüllt, kommt auf „Grün“, wer noch Teile dazu – wie Sprache und Qualifikation – erwerben muss, sieht die Ampel auf Gelb. Ansonsten steht sie auf Rot.
Damit ein solcher Spurwechsel gelingt, müssten wir jetzt kräftig investieren. Bis ein in Deutschland geborenes Kind eine Arbeit aufnehmen kann, sind volkswirtschaftlich Investitionen von mehr als 250.000 Euro nötig. Wenn wir die Hälfte dieser Summe für Integration und Ausbildung eines Flüchtlings aufwenden, ist dies angesichts der demographischen Lücke ein Gewinn. Wir benötigen mithin ein engagiertes, effektives und mutiges Programm zur Qualifikation von Flüchtlingen für den deutschen Arbeitsmarkt. Nicht kleckern, sondern klotzen, ist hier angesagt. Weil die Kommunen das leisten müssen, aber nicht allein stemmen können, muss noch dieses Jahr ein Einwanderungsgesetz in Kraft treten und die Finanzierung im Rahmen einer Gemeinschaftsaufgabe nach Artikel 91 des Grundgesetzes definiert werden: 50 Prozent der Kosten übernimmt der Bund, den Rest Länder und Gemeinden.
Mit einem solchen Kraftakt wird jeder eine faire Chance haben, sich durch eigene Anstrengung einen festen Platz in unserer Gesellschaft zu verdienen. Niemandem wird Nothilfe im beschriebenen Rahmen verweigert, aber Nothilfe bleibt Nothilfe und ist keine ungesteuerte Einwanderung. Die bestehende große Unsicherheit über Qualifikations- und Integrationsfähigkeit der Flüchtlinge wird in einem solchen System nicht zum sozialpolitischen Bumerang oder Projektionsfläche für Ängste. Wer bei uns bleibt, ist eine Bereicherung für unsere Gesellschaft.
Ein solches Konzept könnte den Namen Agenda 2020 erhalten. Es würde Flüchtlinge fördern und fordern, ohne Deutschland zu überfordern.
Wir sind der festen Überzeugung, dass mit Mut, Engagement, klaren Entscheidungen und Zuversicht bei der Flüchtlingspolitik vor Ort und dieser Möglichkeit eines Spurwechsels und eines Brückenschlags von der Nothilfe für Menschen auf der Flucht zu einer gesteuerten Einwanderung die Herausforderungen dieser Monate zu bewältigen sind. Und unsere Gesellschaft letztlich von der Entwicklung profitiert.
Pressestelle der Universitätsstadt Tübingen