Stadtmuseum Tübingen: Provenienzforschung geht in die Verlängerung
Pressemitteilung vom 27.12.2016
Die Fortführung der Provenienzforschung im Tübinger Stadtmuseum ist bis April 2018 gesichert. Das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste in Magdeburg hat die Verlängerung der Förderung um ein Jahr bewilligt. Seit April 2015 erforscht die Kunsthistorikerin Dr. Andrea Richter die Herkunft von Kunstwerken und Kulturgütern in der städtischen Sammlung. Im Mittelpunkt steht dabei mögliche Raub- und Beutekunst aus der Zeit des Nationalsozialismus.
„In Tübingen blicken wir nicht nur auf die Werke, die zwischen 1933 und 1945 in die städtische Sammlung kamen. Mit den Ankäufen des damaligen Kulturamtsleiters Dr. Rudolf Huber Anfang der 1950er-Jahre gab es auch danach noch Sammlungszugänge, die eine genauere Untersuchung erfordern“, erläutert Dagmar Waizenegger, Leiterin des Fachbereichs Kunst und Kultur der Universitätsstadt Tübingen. Hinzu kommen viele Schenkungen nach 1945, bei denen es sich zumeist um Alltagsgegenstände mit bisher unbekannter Herkunft handelt.
Geplante Restitutionen
Zwischen 1933 und 1945 kamen mehrere Kulturgüter aus ehemals jüdischem Besitz, die im Nationalsozialismus unter Druck entäußert worden waren, ins Tübinger Stadtmuseum. Das haben die Recherchen von Dr. Andrea Richter ergeben. Dazu gehören eine Goldwaage und zwei Ferngläser aus dem Besitz des Tübinger Optikers Adolf Dessauer und ein Büchlein mit dem Titel „Oberamtsbeschreibung Tübingen“, das vermutlich aus einer Stuttgarter Buchhandlung namens „Levi“ stammt. Die Goldwaage soll nun an die Nachfahren Dessauers zurückgegeben werden. Die Fernrohre und das Buch sind bisher nur in den Eingangsbüchern des Stadtmuseums belegt, wurden aber noch nicht in der Sammlung gefunden. Sobald dies geschieht, sollen sie ebenfalls restituiert werden.
Weitere Judaica
Recherchen in der Sammlung haben weitere Judaica zutage gebracht. Dabei handelt es sich um kunsthandwerkliche Gegenstände und sakrale Objekte jüdischen Ursprungs. Ihnen kommt in der Provenienzforschung besondere Beachtung zu, weil hier eine Veräußerung unter Zwang naheliegt. Gefunden wurden ein jüdisches Kalenderbuch von 1885 und ein Tuch mit Inschrift aus den 1920er-Jahren, zu dem Dr. Andrea Richter einen Forschungsbericht verfasst hat. Über die Restitution von Buch und Tuch ist das Stadtmuseum im Gespräch mit dem Verein Bustan Shalom e.V. Tübingen. Möglicherweise können beide Gegenstände an die rechtliche Nachfolgerin der jüdischen Gemeinde in Tübingen – die Israelitische Religionsgemeinschaft Württemberg in Stuttgart – zurückgegeben werden. Außerdem wurde in der Sammlung ein Fundamentstein der ehemaligen Tübinger Synagoge gefunden, der 2005 über ein Missverständnis in den Besitz des Museums gelangt war. Der Stein wurde bereits an den rechtmäßigen Eigentümer zurückgegeben.
„Entartete Kunst“ in Tübingen
Im Bestand des Stadtmuseums befinden sich sieben Grafiken, die die Nationalsozialisten 1937 als „entartete Kunst“ beschlagnahmt hatten. Kulturamtsleiter Rudolf Huber kaufte diese Werke in den 1950er-Jahren im Stuttgarter Kunstkabinett von Roman Norbert Ketterer. Es handelt sich um sechs Druckgrafiken von Georg Schrimpf, Lyonel Feininger, Max Pechstein und Oskar Kokoschka sowie eine Zeichnung von Emil Nolde. Dr. Andrea Richter hat die Museen, denen die Werke ursprünglich gehörten, über deren Verbleib informiert. Die Grafiken verbleiben im Stadtmuseum, weil sie nach gültiger Rechtsprechung nicht zurückgefordert werden können.
Werke von Kokoschka und Kirchner
Dr. Andrea Richter hat von allen 216 Kunstwerken, die Rudolf Huber Anfang der 1950er-Jahre angekauft hatte, die Vorder- und Rückseiten gesichtet. Mitunter gaben Stempel vorheriger Besitzer und Widmungen des Künstlers Aufschluss über die Herkunft. So gehören zum Besitz des Stadtmuseums unter anderem eine Grafik von Oskar Kokoschka aus der Sammlung von Dr. Hans Posse und eine Grafik von Ernst Ludwig Kirchner aus der Sammlung Dr. Frédéric Bauer. Beide können als unbedenklich gelten.
Recherche zu Max Liebermann dauert an
Eine weitere Widmung identifizierte ein Blatt von Max Liebermann aus der Sammlung des jüdischen Sammlers und Kaufmanns Max Braunthal in Frankfurt. Hierzu nahm Dr. Andrea Richter Kontakt zum Projekt „Provenienzrecherche Gurlitt“ – der ehemaligen „Schwabinger Kunstfund Taskforce“ – auf, weil die Forscher einer ähnlichen Widmung auf einer Zeichnung Liebermanns nachgehen. Noch ist offen, ob es sich bei dem Blatt um Raubkunst handelt, weil noch nicht geklärt werden konnte, zu welchem Zeitpunkt und unter welchen Umständen Max Braunthal es verkauft hatte.
Anlage
Forschungsbericht zum jüdischen Tuch
www.tuebingen.de/provenienzforschung
Pressestelle der Universitätsstadt Tübingen