Volkstrauertag: Keine zentrale Gedenkveranstaltung in Tübingen
Pressemitteilung vom 11.11.2024
Aufgrund der zunehmend schwindenden öffentlichen Resonanz der letzten Jahre gibt es in diesem Jahr in Tübingen keine zentrale Gedenkstunde zum Volkstrauertag am 17. November. „Zuletzt hatte der Zuspruch zu den Gedenkfeiern zum Volkstrauertag – nicht nur auf dem Bergfriedhof, sondern auch in den Ortsteilen Tübingens – sehr stark nachgelassen. Das haben wir zum Anlass genommen, in den Austausch mit den an der Gedenkstunde beteiligten Institutionen zu gehen: mit den beiden großen Kirchen, dem Landratsamt, dem Regierungspräsidium, mit der Berghof Peace Foundation und der Friedhofsverwaltung. Alle kamen überein, in diesem Jahr eine ‚Denkpause‘ einzulegen. Sie soll dazu genutzt werden, über die Formen und Inhalte der Gedenkstunde zum Volkstrauertag nachzudenken“, erläutert Christopher Blum, Leiter der Fachabteilung Kunst, Kultur und internationale Beziehungen bei der Universitätsstadt Tübingen. Eine ausführliche Begründung dazu ist auf der städtischen Internetseite unter www.tuebingen.de/volkstrauertag abrufbar.
Auch in Kilchberg, Bebenhausen und Unterjesingen finden in diesem Jahr keine Gedenkstunden statt. In den Tübinger Ortsteilen gibt es folgende Gedenkfeiern:
Gedenkfeiern am Sonntag, 17. November 2024, in den Stadtteilen
- Bühl: 10 Uhr (nach dem Gottesdienst) am Mahnmal bei der Kirche
- Hagelloch: 10.45 Uhr (nach dem Gottesdienst) am Mahnmal bei der Kirche
- Hirschau: 10.45 Uhr beim Mahnmal auf dem Friedhof (Treffpunkt 10.30 Uhr am Rathaus)
- Lustnau: 11 Uhr Kranzniederlegung am Mahnmal auf dem Friedhof
- Weilheim: 11 Uhr (nach dem Gottesdienst) am Mahnmal bei der Kirche
Gedenkfeier am Totensonntag, 24. November 2024
- Pfrondorf: 11 Uhr (nach dem Gottesdienst) Gedenkstunde auf dem alten Friedhof
www.tuebingen.de/volkstrauertag
Anlage
Begründung zur „Denkpause“ beim Volkstrauertag
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Begründung zur „Denkpause“ beim Volkstrauertag
Der Volkstrauertag ist ein bundesweiter Gedenktag für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft auf der ganzen Welt. Er ist einer der sogenannten stillen Feiertage, genießt daher gesetzlichen Schutz und soll Gelegenheit zu Einkehr und Besinnung bieten. Seit 1950 findet im Plenarsaal des Deutschen Bundestages eine zentrale Feierstunde statt, deren offizieller Veranstalter der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge ist. In der Neuen Wache in Berlin, der zentralen Gedenkstätte Deutschlands für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft, legen Vertreter_innen der Verfassungsorgane Kränze nieder. Auch in vielen anderen Städten und Gemeinden gedenken Menschen an Mahnmalen und mit Feierstunden der Opfer.
Für viele Menschen ist der Volkstrauertag jedoch immer schon ein schwieriger Gedenktag gewesen, zumal in einer kritischen Stadt wie Tübingen, auch wenn sich hier der Fokus bei den Feiern über die Jahre immer wieder verändert hat. So waren in den letzten Jahren regelmäßig friedenspolitische Impulse Teil der Gedenkstunde.
Ein ganz kurzer Rückblick auf die Geschichte des Volkstrauertags: Seine Bedeutung hat sich im Lauf der Jahrzehnte stark gewandelt. Auch das genaue Datum des Gedenktags wurde immer wieder verändert. Ursprünglich hatte er einen anderen Charakter als heute: 1922 durch den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V. eingeführt, wurde er zunächst als Gedenktag für die gefallenen deutschen Soldaten des Ersten Weltkriegs begangen. Die Nationalsozialisten widmeten ihn offiziell zum „Heldengedenktag“ um: Statt stillem Totengedenken stand nun militaristische Heldenverehrung im Mittelpunkt.
Nach dem Zweiten Weltkrieg, von den 1950er- bis in die 1980er-Jahre, wurde, an traditionell militärischer Symbolik festhaltend, vor allem um die gefallenen deutschen Soldaten getrauert, ohne zum Beispiel über deutsche Verantwortung nachzudenken und zwischen Opfern und Tätern zu differenzieren. Erst spät wurden auch die Menschen in das Gedenken aufgenommen, die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft geworden waren. Heute wird – auch wenn traditionell nach wie vor die Soldatengräber der Kern des Gedenkens sind – allgemein der Opfer von Krieg, Gewaltherrschaft und Terror gedacht und auch verstärkt auf aktuelle Entwicklungen Bezug genommen.
Auch in Tübingen lassen sich über die Jahrzehnte die Veränderungen im Gedenken am Volkstrauertag ablesen: in der Form der Gestaltung, den Inhalten und nicht zuletzt den kritischen Diskussionen, die die Gedenkstunde begleiteten. In den vergangenen Jahren hat der Zuspruch zu den Gedenkfeiern – nicht nur auf dem Bergfriedhof, sondern auch in den Ortsteilen Tübingens – aber sehr stark nachgelassen. Es ist festzustellen, dass sich auch hier die Gedenktage-Kultur verändert hat. Der zeitliche Abstand für das individuelle Gedenken an Familienangehörige, die in den Weltkriegen umgekommen sind, ist inzwischen sehr groß; von den unmittelbar trauernden Angehörigen lebt kaum noch jemand. Es gibt gewissermaßen die Gesellschaft nicht mehr für den Volkstrauertag. In seiner traditionellen Form und Gehalt hat er an Bedeutung verloren. Andere Gedenktage wie der
9. November oder der Holocaust-Gedenktag am 27. Januar haben an Bedeutung gewonnen.
Mit Blick auf die derzeitigen Kriege im Nahen Osten, in der Ukraine oder andernorts auf der Welt, auf die zahllosen Opfer von staatlicher und politischer Gewalt, auf die Millionen Menschen, die derzeit ihre Heimat als Flüchtlingen verlassen mussten: Für die Beschäftigung mit diesen Themen ist der Volkstrauertag nicht mehr das richtige Forum, dafür gibt es auch in Tübingen andere Plattformen und Veranstaltungen. Gleichwohl gibt es weiterhin die Gelegenheit für das Gedenken – individuell und gemeinsam mit anderen – am Volkstrauertag. Denn kirchlich ist er gut verankert: Obwohl der Volkstrauertag kein kirchlicher Feiertag ist, erinnern die Kirchen im Rahmen der ökumenischen Friedensdekade an diesem Tag an die christliche Verantwortung für Frieden und Versöhnung.
Im vergangenen Jahr wurde ein neuer Ansatz versucht, indem die Feier vom Berg- herunter auf den Stadtfriedhof – also mehr in die Stadt – verlegt wurde. Anstelle der überkommenen Form mit Redebeiträgen, musikalischer Umrahmung und Kranzniederlegung gab die Geschichts-AG der Geschwister-Scholl-Schule aus der Perspektive von Jugendlichen einen inhaltlichen Impuls und die Gelegenheit zum offenen Austausch über diesen Gedenktag. Allerdings: Außer den Beteiligten und einigen Eltern nahm auch an dieser anderen Art der Gedenkstunde nur eine Handvoll Menschen teil.
Der bei der Stadtverwaltung zuständige Fachbereich Kunst und Kultur nahm dies nun zum Anlass, in den Austausch mit den an der Gedenkstunde beteiligten Institutionen zu gehen – mit den beiden großen Kirchen, dem Landratsamt, dem Regierungspräsidium, mit der Berghof Peace Foundation und der Friedhofsverwaltung. Alle kamen überein, dass eine „Denkpause“ gut täte und nicht um jeden Preis an einer Gedenkveranstaltung festgehalten werden soll, an der nur noch wenige Menschen teilnehmen, und sei sie, gerade in dieser Zeit, auch noch so angemessen. Die Pause soll dazu genutzt werden, über die Formen und Inhalte der Gedenkstunde zum Volkstrauertag nachzudenken. Letztendlich geht es darum, ein überkommenes Ritual kritisch zu befragen und auf eine unserer heutigen Zeit und aktuellen Themen angemessene Weise zu verändern.