Restitution: Eine Waage aus dem Stadtmuseum wechselt die Besitzer
Pressemitteilung vom 13.11.2017
Eine kleine Goldwaage aus dem Besitz des Stadtmuseums hat die Erste Bürgermeisterin Dr. Christine Arbogast an die Urenkel des jüdischen Vorbesitzers Adolf Dessauer übergeben. Das Familienerbstück wurde um 1750 aus Birnbaumholz, Messing und Stahl gefertigt. Die Waage war 1939 weit unter Wert und vermutlich unter Zwang verkauft worden. Mitglieder der Familie waren in der vergangenen Woche nach Tübingen gekommen, um die Waage in Empfang zu nehmen.
„Wir haben den Wunsch der Familie respektiert und die Übergabe ohne Beteiligung der Öffentlichkeit vollzogen“, erklärt die Erste Bürgermeisterin Dr. Christine Arbogast. „Zugleich freue ich mich, dass unsere Provenienz-Forschung Früchte trägt.“
Im Mai 2015 wurde bei Stichproben in den Inventarbüchern ein Objekt gefunden, eine „Kleine Kölner Goldwaage“, aus der Mitte des 18. Jahrhunderts, die am 11. Januar 1939 aus dem Besitz des Optikers Adolf Dessauer für 10 Reichsmark erworben wurde. Die Umstände des Verkaufs von dem schon hoch betagten jüdischen Optiker Adolf Dessauer konnten nicht in Gänze rekonstruiert werden. Die Waage hätte um 1939 auch noch an Familienmitglieder, die in Tübingen und Stuttgart lebten, übertragen werden können. Daher wird angenommen, dass sie unter Druck entäußert wurde, um diverse Zusatzsteuern wie zum Beispiel die Judenvermögensabgabe zahlen zu können. Der Kaufbetrag erscheint für ein Objekt aus dem 18. Jahrhundert zudem als niedrig. Deshalb entschloss sich die Universitätsstadt, die Waage an die Nachfahren Dessauers zurückzugeben.
Die heutigen Erben von Adolf Dessauer konnten mithilfe der Wiedergutmachungsakten der 1950er/ 1960er Jahre sowie mit Hilfe des Konsulats der Botschaft Israels in Berlin gefunden und informiert werden. Es handelt sich um drei Urenkel von Adolf Dessauer. Sie stammen von verschiedenen Töchtern Dessauers ab. Die Erben haben darum gebeten, namentlich nicht genannt zu werden und wünschen keine Öffentlichkeit. Zur Übergabe der „Kleinen Kölner Goldwaage“ durch die Erste Bürgermeisterin, die am 7. November 2017 in kleinem Rahmen im Rathaus stattfand, war einer der drei Urenkel persönlich anwesend. Die anderen beiden Erben wurden aus gesundheitlichen Gründen durch ihre Nachfahren vertreten.
Als Dank brachten die Erben ihrerseits ein Geschenk mit, einen achtarmigen Leuchter, Chanukkia genannt. Er steht als Symbol für das jüdische Lichterfest und soll verdeutlichen, dass die Rückgabe der Goldwaage für die Erben selbst wie ein Wunder ist. „Sie bezeichnet gewissermaßen den Weg aus der großen Finsternis der Vergangenheit in das Licht der Gegenwart und trägt große Hoffnung in eine bessere Zukunft mit sich“, sagten sie bei der Übergabe.
Der Tübinger Öffentlichkeit wurde die Waage als Objekt des Monats November 2016 in der Außenvitrine des Stadtmuseums präsentiert. Dazu wurde die Geschichte der Familie erzählt und zwei Ferngläser gezeigt, die bei den Gebrüdern Dessauer hergestellt wurden.
Seit April 2015 erforscht das Stadtmuseum die Provenienz von Sammlungsgegenständen, die im Verdacht stehen, „NS-verfolgungsbedingt entzogenes Kulturgut“ zu sein. Eine mit Drittmitteln finanzierte Wissenschaftlerin recherchiert die Herkunft der Einzelobjekte. Ziel ist es, Gegenstände mit belasteter Herkunft gegebenenfalls zurückzugeben. Diese Recherchen können dank der Förderung der Stiftung Deutsches Zentrum Kulturgutverluste vorgenommen werden. Über ihre Arbeit berichtet Dr. Andrea Richter in einem Vortrag am Dienstag, 21. November 2017, um 18 Uhr, im Stadtmuseum. Dazu sind alle Interessierten herzlich eingeladen.
Pressestelle der Universitätsstadt Tübingen