Martin Rosemann und die Stadtverwaltung tauschten sich über die Rechtslage im Fall Waqas aus
Pressemitteilung vom 19.02.2020
Die Abschiebung des pakistanischen Staatsbürgers Bilal Waqas hat die Zivilgesellschaft in Tübingen sehr bewegt. Die Frage, ob die städtische Ausländerbehörde die Möglichkeit gehabt hätte, Bilal Waqas ein Aufenthaltsrecht zu erteilen, ist daher von großem öffentlichem Interesse.
Die Stadtverwaltung hatte öffentlich erklärt, sie sei rechtlich verpflichtet gewesen, die Aufenthaltserlaubnis zu verweigern. Der Tübinger Bundestagsabgeordnete Dr. Martin Rosemann (SPD) hatte hingegen die Auffassung vertreten, die Stadtverwaltung habe sehr wohl einen Ermessensspielraum für ein Aufenthaltsrecht gehabt, diesen aber nicht genutzt. Um diese Frage zu besprechen, trafen sich Martin Rosemann und Rechtsanwalt Holger Rothbauer mit Oberbürgermeister Boris Palmer, Bürgermeisterin Dr. Daniela Harsch, dem Leiter der Tübinger Ausländerbehörde Wilhelm Gunkel und der Mitarbeiterin im Rechtsamt Verena Kieninger im Rathaus.
In der Diskussion wurde in einer Reihe von Fragen, die diese Abschiebung aufgeworfen hatte, Einigkeit erzielt. Auch für Rosemann und Rothbauer steht fest, dass die Entscheidung der Stadt, einen Aufenthaltstitel zu versagen, nicht rechtswidrig, sondern rechtmäßig war. Im Rahmen des Gesprächs wurde zudem Konsens darüber erzielt, dass es sich in diesem Fall nicht um eine Ermessensentscheidung der Ausländerbehörde gehandelt hat, bei der eine umfassende Würdigung der Gesamtumstände des Einzelfalls vorgenommen wird, um zu klären, ob ein Ausweisungsinteresse vorliegt.
Allerdings hatte das städtische Ausländeramt eine Auslegungsentscheidung im Hinblick auf die Straftat zu treffen, wegen der Herr Waqas verurteilt worden war. Das städtische Ausländeramt hatte zu entscheiden, ob im konkreten Fall eine Straftat vorliegt, die zu einem Ausweisungsinteresse und in der Folge zwingend zur Versagung des Aufenthaltsrechts führt. Strittig blieb dabei, ob die städtische Ausländerbehörde diese Auslegungsentscheidung auch rechtssicher so hätte treffen können, dass Bilal Waqas der Aufenthaltstitel nicht verwehrt worden wäre.
Im Rahmen dieser Auslegungsentscheidung ging es gemäß einschlägiger Rechtsprechung um zwei Aspekte: zum einen, ob die Straftat ein „nicht nur vereinzelter oder geringfügiger Verstoß gegen Rechtsvorschriften“ ist. Zum anderen musste die Ausländerbehörde prüfen, ob sie aktuell ein generalpräventives Ausweisungsinteresse zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Aufenthaltserlaubnis für gegeben hält.
Nach Rosemanns und Rothbauers Einschätzung hätte die städtische Ausländerbehörde sowohl die „Geringfügigkeit“ des Rechtsverstoßes als auch die Frage, ob ein „aktuelles generalpräventives Ausweisungsinteresse“ vorliegt, auch anders und damit ebenfalls rechtmäßig auslegen und bewerten können, als sie es im Fall Waqas getan hat. Sie begründen dies damit, dass es sich sowohl bei der „Geringfügigkeit“ einer Straftat als auch bei der Aktualität des Ausweisungsinteresses um unbestimmte Rechtsbegriffe handelt. Dabei verweisen sie darauf, dass das Amtsgericht Tübingen Herrn Waqas wegen seiner teilweise falschen Identitätsangaben zu einer „nach dem gesetzlichen Strafrahmen sehr geringen Geldstrafe von 50 Tagessätzen“ verurteilt hatte. Ein generalpräventives Ausweisungsinteresse im Fall Waqas würde bedeuten, dass alle anderen ehemaligen Asylbewerber gerade anhand dieses Falls begreifen müssten, dass sie über ihre richtige Identität schon bei Asylantragstellung und Einreise nach Deutschland keine falschen Angaben machen dürfen.
Rechtsanwalt Rothbauer verwies auf völlig gleich gelagerte Fälle in seiner Kanzlei, in denen Ausländerbehörden in der näheren Umgebung genau anders entschieden und die Aufenthaltserlaubnis erteilt hätten: „Die Behauptung der Stadt würde bedeuten, dass diese Ausländerbehörden rechtswidrig gehandelt haben, was sicher nicht der Fall ist, denn selbst das Bundesverwaltungsgericht macht keinerlei zwingende Vorgaben, was eine Ausländerbehörde noch als ‚geringfügigen Verstoß‘ betrachten darf und ab welchem genauen Zeitpunkt ein ‚aktuelles generalpräventives Ausweisungsinteresse‘ besteht oder nicht mehr besteht. Dies ist zunächst allein Auswertungs- und Bewertungshoheit der Ausländerbehörde.“
Oberbürgermeister Boris Palmer entgegnete, dass jeder Fall für sich bewertet werden müsse und die Stadt schon deshalb keine Aussage über andere Ausländerbehörden machen könne, weil ihr kein einziger gleichartiger Fall bekannt sei, in dem anders entschieden wurde. Wilhelm Gunkel führte für die Stadtverwaltung aus, dass die absichtliche, wiederholte Identitätstäuschung, die im Fall von Bilal Waqas unstreitig vorliegt, eine Straftat darstelle. In der Rechtsprechung sei schon lange geklärt, dass eine vorsätzliche Straftat, die zu einer Verurteilung geführt hat, in keinem Fall als geringfügig eingestuft werden könne. Auch das von Rothbauer zitierte Urteil des Bundesverwaltungsgerichts bekräftige, dass ein strafrechtlich relevantes Handeln ein Ausweisungsinteresse darstelle. Das Gericht habe lediglich Grenzen gezogen, wie lange eine Straftat als Ausweisungsinteresse noch berücksichtigt werden solle. Eine Straftat sei unberücksichtigt zu lassen, wenn sie sehr lange zurückliege. Dafür sei vom Gericht konkret der Zeitpunkt der Löschung der Straftat aus dem Bundeszentralregister genannt worden. Im Fall von Bilal Waqas‘ Vergehen ist das ein Zeitraum von fünf Jahren. Die Verurteilung lag aber erst zehn Monate zurück, als der Aufenthaltsantrag endgültig abgelehnt wurde, daher konnte auch diese letzte denkbare Ausnahme nicht greifen. Da die Straftat nicht geringfügig, nicht vereinzelt und nicht lange zurückliegend sei, liege der Tatbestand eines Ausweisungsinteresses noch vor. „Der Ausländerbehörde ist daher jedes Ermessen genommen und die Versagung eines Aufenthaltsrechts zwingend“, so Gunkel.
Für Bürgermeisterin Dr. Daniela Harsch und Oberbürgermeister Boris Palmer hat das Gespräch Klarheit darüber erbracht, dass in nahezu allen Punkten Übereinstimmung besteht. Insbesondere darin, dass eine Ermessensentscheidung, wenn sie denn möglich gewesen wäre, zugunsten von Bilal Waqas ausgefallen wäre. Es sei schlicht falsch, jenseits des Asylverfahrens unbescholtene und gut integrierte Ehemänner abzuschieben. Die von Rosemann und Rothbauer formulierte These, es sei möglich, den bewussten, von Waqas eingeräumten und durch ein Urteil festgestellten Identitätsbetrug, der wiederholt und auch nach mehrmaliger Aufforderung fortgesetzt wurde, als geringfügige Straftat einzustufen, sahen beide nicht als haltbar an: „Wir sehen uns nach Prüfung der Argumente darin bestärkt, dass unsere Mitarbeiter korrekt gehandelt haben und es keine rechtmäßige Möglichkeit gab, Bilal Waqas ein Aufenthaltsrecht zu erteilen. Wir bedauern das und würden uns mehr Ermessensspielräume für solche Entscheidungen wünschen.“
Für Rosemann und Rothbauer steht auch nach dem Gespräch fest, dass die öffentliche Darstellung der Stadtverwaltung, dass Herrn Waqas keine Aufenthaltserlaubnis nach der Eheschließung mit einer deutschen Staatsangehörigen erteilt werden durfte, die Tübinger Ausländerbehörde also nur rechtswidrig Herrn Waqas eine Aufenthaltserlaubnis hätte erteilen können, falsch ist. Dies gelte auch dann, wenn man die sehr enge Auslegung des Bundesverwaltungsgerichts heranziehe. „Weder für die Geringfügigkeit einer Straftat noch für die Aktualität eines generalpräventiven Ausweisungsinteresses gibt es eine klare rechtliche Definition – auch nicht durch Urteile. Hier irrt die Stadtverwaltung. Die Aussage von Oberbürgermeister Boris Palmer, die Stadt trage keinerlei Verantwortung im Fall Waqas, halten wir daher für nicht zutreffend.“
Pressestelle der Universitätsstadt Tübingen