OB Boris Palmer erläutert: Was bedeutet ein „Nein“ beim Bürgerentscheid zur Innenstadtstrecke?
Pressemitteilung vom 07.09.2021
Der Bürgerentscheid zur Innenstadtstrecke der Regional-Stadtbahn rückt näher. Was ein „Ja“ bedeutet, ist für alle erkennbar: Die Innenstadtstrecke kann entsprechend den vorliegenden Planungen gebaut werden, denn die Finanzierung ist gesichert und die Machbarkeit erwiesen. Hingegen ist keinesfalls klar, was aus einem „Nein“ folgt. Für Oberbürgermeister Boris Palmer kein guter Zustand: „Bei einer Entscheidung sollte man immer wissen, wofür man sich entscheidet.“
Entsprechend einer Vereinbarung mit den Fraktionen im Gemeinderat, dass die Stadtverwaltung sich vor dem Bürgerentscheid neutral verhält, hat Oberbürgermeister Palmer daher eigene Überlegungen angestellt und für die Öffentlichkeit zusammengefasst. Das Ergebnis sieht wie folgt aus:
1. Ein Nein bezieht sich auf alle Trassenvarianten
Viele Bürgerinnen und Bürger sagen, sie lehnen nur die Trassenführung durch die Mühlstraße ab. Eine Stadtbahn zu den Kliniken über Westen und den Hagellocher Weg würden sie hingegen unterstützen. Diese Alternative wurde geprüft und aus vielen Gründen verworfen. Die Ammertalbahn ist auf der Neckarbrücke und im Schlossbergtunnel nur eingleisig. Die Strecke ist ein Umweg von mehreren Kilometern. Die Fahrzeiten sind länger als durch die Stadt. Die Investitionskosten sind höher. Man müsste aus drei Richtungen immer am Westbahnhof oder am Hauptbahnhof umsteigen, Direktverbindungen wären nur aus einer Richtung möglich. Die Fahrgastzahlen wären deutlich geringer, weil die Ziele in der Innenstadt und die Universität umfahren werden. Damit ist das Vorhaben gar nicht förderfähig und müsste komplett aus der Stadtkasse bezahlt werden. Ein Nein zur Innenstadtstrecke bedeutet daher ein Nein zu jeder Erschließung des Nordens der Stadt mit Straßenbahnen.
2. Die Variante Schnellbus ist nicht zur Umsetzung geeignet
Die als einzig reale Alternative zur Innenstadtstrecke übriggebliebene Schnellbus-Option hat gravierende Nachteile, denen kein angemessener Nutzen gegenübersteht. Dies wird besonders deutlich an der östlichen Route vom Haltepunkt „Neckaraue“ zum Technologiepark.
Dieser Schnellbus kann pro Richtung nur zweimal pro Stunde fahren, denn es halten nur zwei Stadtbahnzüge pro Stunde und Richtung. Mehr ist auch nicht möglich, weil es dafür keine freien Trassen auf der Strecke nach Reutlingen gibt. Der Schnellbus hat daher nur Vorteile für Fahrgäste aus Reutlingen. Für die Linien aus Rottenburg, Herrenberg oder Mössingen gilt immer: Man ist vom Hauptbahnhof schneller mit dem normalen Bus der Linie 3 am Technologiepark als über den Lustnauer Umweg per Schnellbus und man muss einmal weniger umsteigen.
Das spiegelt sich auch in den Fahrgastprognosen für diesen Schnellbus wider. Pro Kilometer zusätzlicher Busfahrt werden gerade mal zwei zusätzliche Fahrgäste vom Autoverkehr gewonnen (1.700 Fahrgäste pro Tag, davon die Hälfte Umsteiger vom Auto, bei einem Halbstundentakt 64 Fahrten zu je fünf Kilometern pro Tag). Daher ist das Angebot auch hoch unwirtschaftlich und wird für die Stadtkasse massive jährliche Defizite erbringen, die niemand in der Region bezahlen will, weil kaum Pendler damit fahren werden. Insgesamt soll im Szenario Schnellbus 40 Prozent mehr Busverkehr angeboten werden – das entspricht jährlichen Mehrkosten von über sieben Millionen Euro, denen kaum zusätzliche Einnahmen gegenüberstehen. Mit 40 Prozent mehr Busverkehr würden nur zehn Prozent mehr Fahrgäste im TüBus fahren (60.000 Fahrgäste heute pro Tag, Schnellbussystem plus 6.600). Der vorgeschlagene Schnellbus kostet die Stadt daher pro Jahr mindestens fünf Millionen Euro mehr als der Bau und Betrieb der Innenstadtstrecke. Das hätte massive Folgen für den Haushalt und würde viele Investitionen wie ein neues Hallenbad oder einen Kultursaal unmöglich machen.
Trotzdem erfordert der östliche Schnellbus massive Investitionen und hat große Nachteile für den Autoverkehr. Vom Haltepunkt „Neckaraue“ muss eine Busrampe zur B27-Zubringerbrücke in Lustnau gebaut werden. Im Berufsverkehr ist dort regelmäßig Stau. Für eine Busspur gibt es keinen Platz auf der Brücke. Nach dem Vorschlag in der vor kurzem vorgestellten Alternativenprüfung stand der Bus mit im Stau. Damit der Bus dem Anspruch, „schnell“ zu sein, gerecht wird, müsste durch Ampeln die Brücke für jede Fahrt frei gesperrt werden. Das würde bedeuten, dass man stadteinwärts mehrere Minuten lang durch eine Pförtnerampel die Zufahrt zur Brücke von der B27 sperren müsste mit der Folge eines Rückstaus auf die Bundesstraße. Stadtauswärts müsste der gesamte Autoverkehr zur B27 einspurig über die Adlerkreuzung, weil die Alberstraße nur noch dem Bus vorbehalten wäre. Eine deutliche Ausweitung der Staus in Lustnau wäre die unmittelbare Konsequenz.
Der Schnellbus auf der Achse durch die Weststadt ist realisierbar, hat aber keine Vorteile gegenüber der bestehenden Linie X15. Diese erreicht die Kliniken in derselben Fahrzeit. Und das gilt nur, wenn auf der Westbahnhofstraße und der Herrenberger Straße der heutige Klinikverkehr mit dem Auto komplett unterbunden wird. Zudem bedarf es mehr eigener Infrastruktur für den Busverkehr. Diese kann über die Reduktion von Fahrstreifen für den Autoverkehr sowie Streichung von Parkplätzen entlang der Straßen bereitgestellt werden. So wurde beispielsweise die Reduktion der Fahrstreifen für den Autoverkehr im Schlossbergtunnel zugunsten des Busverkehrs für eine Linie vom Hauptbahnhof in der Alternativenprüfung vorgeschlagen. Diese Schnellbuslinie ist also in erster Linie dazu da, den Autoverkehr auszusperren, obwohl die Streckenführung durch die Mühlstraße die gleiche Fahrzeit bietet (zehn Minuten). Und dennoch bleibt die Zahl der Umsteiger vom Auto auf den Bus nach den Berechnungen der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler weit hinter denen der Stadtbahn mit Innenstadtstrecke zurück.
Zusammengefasst: Die Schnellbusse wären weitgehend leer, völlig unwirtschaftlich, nicht schneller als das vorhandene Busangebot und hätten vor allem massive Nachteile für den Autoverkehr.
3. Autonome Shuttles sind Zukunftsmusik und keine Lösung
Die oft wiederholte Idee, die Stadtbahn könne durch so genannte „flexible klimafreundliche“ Fahrzeuge unnötig werden, ist geprüft und verworfen worden. Die Realisierung des voll autonomen-Fahrens liegt noch in weiter Ferne. Wichtiger ist aber, dass es für Pendler keine Lösung ist. Die Zahl der Fahrgäste ist heute schon so groß, dass sie nur in großen Einheiten transportiert werden können. Viele kleine Fahrzeuge, ob autonom oder nicht, würden sich nur gegenseitig behindern und im Stau stehen. Das gilt auch für den nur langfristig zu erhoffenden Fall, dass der Antrieb komplett klimaneutral ist.
4. Zwei reale Alternativen zur Innenstadtstrecke
Aus den genannten Überlegungen wird deutlich, dass es nur zwei reale Alternativen gibt, wenn die Innenstadtstrecke nicht gebaut wird: Es bleibt alles, wie es ist, oder der Umstieg auf den Busverkehr wird durch massive Verschlechterung der Erreichbarkeit der Stadt mit dem Auto durchgesetzt. Die Alternative „Schnellbus“ ist nicht finanzierbar, nicht schnell und besteht nur auf dem Papier.
Alles zu lassen, wie es ist, also nur die Regionalstrecken auszubauen und ab dem Hauptbahnhof Busse in den Tübinger Norden anzubieten, führt nach den Berechnungen der Alternativenprüfung nur zu einem geringen Anstieg der ÖPNV-Pendler: Nur etwa jeder fünfte frühere Autofahrer, der das Angebot der Innenstadtstrecke nutzt, lässt sich auch durch die Regional-Stadtbahn ohne Innenstadtstrecke überzeugen, auf das Auto zu verzichten. Damit bliebe Tübingen weiterhin eine Autopendlerstadt mit allen Konsequenzen. Es ist unwahrscheinlich, dass dieser Zustand angesichts der Herausforderung durch den Klimawandel wirklich dauerhaft beibehalten werden kann.
Die wahrscheinlichere Devise für die Zukunft lautet also: „Umsteigen ist zumutbar.“ Dieser Satz wird den Pendlern in letzter Zeit vermehrt entgegengehalten. Sie sollen eben auf den Bus umsteigen, weil die Tübinger keine Innenstadtstrecke wollen. Damit sie das tun, müssten aber die Reisezeitvorteile des Autos beseitigt werden. Die Innenstadtstrecke würde das durch mehr Komfort, direkte und schnelle Verbindungen schaffen. Damit Busse dasselbe Ergebnis erzielen, müsste der Autoverkehr deutlich unattraktiver werden. Was dafür getan werden müsste, zeigt eine Übersichtskarte (siehe Anlage):
- Wiedereinführung der Busspur von Lustnau in der Wilhelmstraße
- Rückbau der Zufahrt zur Stadt in der Westbahnhofstraße auf eine Spur
- Sperrung der Zufahrt von der Westbahnhofstraße/Herrenberger Straße zur Schnarrenbergauffahrt
- Reaktivierung der Pförtnerampel in der Hechinger Straße
- Sperrung der Durchfahrt von der K6900 zur Derendinger Straße
Mit diesem Maßnahmenbündel würde der einpendelnde Autoverkehr so viel Zeit verlieren, dass der Umstieg auf den Bus attraktiv würde. Der Vorteil dieser Maßnahmen wäre, dass sie sehr schnell umsetzbar sind und wenig Geld kosten. Der Nachteil wäre, dass die politische Energie aufgebracht werden müsste, Autofahren in die Stadt aktiv unattraktiv zu machen und die effektive Reisezeit für alle Pendler, Autofahrer wie Nutzer des ÖPNV, im Schnitt zehn Minuten länger wäre als mit der Innenstadtstrecke.
Das persönliche Fazit des Oberbürgermeisters: „Ein Nein zur Innenstadtstrecke der Regional-Stadtbahn bedeutet entweder, dass Tübingen eine Autopendlerstadt bleibt oder die Pendler mit massiven Eingriffen ins Straßennetz zum Umsteigen auf den Bus bringt. Auf Dauer werden wir dem Klimaschutz keine Absage erteilen können. Ein Nein zur Stadtbahn wird daher zu Restriktionen beim Autoverkehr zwingen. Ich habe diese in meiner gesamten Amtszeit vermieden, weil ich die gesellschaftliche Sprengkraft für zu groß hielt. Deshalb setze ich mich für die Stadtbahn ein. Ich plädiere für Angebote statt Zumutungen. Wenn wir aber wirksame Verbesserungen im Nahverkehr ablehnen, sind Verschlechterungen für den Autoverkehr die logische Konsequenz. Aus meiner Sicht gilt das völlig unabhängig von der Frage, wer nach der nächsten Wahl Oberbürgermeister oder Oberbürgermeisterin von Tübingen ist. Gegen die normative Kraft des Faktischen kann man sich nicht dauerhaft stellen.“
Anlage
Übersichtskarte für die realen Alternativen zur Innenstadtstrecke der Regional-Stadtbahn