Die Universitätsstadt Tübingen trauert um ihre Ehrenbürgerin Sr. Carlagnese Nanino
Pressemitteilung vom 14.03.2022
Mit großer Bestürzung hat Oberbürgermeister Boris Palmer die Nachricht vom Tod der Tübinger Ehrenbürgerin Sr. Carlagnese Nanino aufgenommen:
„Die Universitätsstadt Tübingen trauert um ihre Ehrenbürgerin Sr. Carlagnese Nanino. Mit ihrem außerordentlichen Engagement und ihren großartigen Leistungen und Verdiensten im Bereich der Kinderbetreuung bleibt sie eine prägende Persönlichkeit unserer Stadt.
Sr. Carlagnese Nanino, geborene Erminia Nanino, wurde am 12. Oktober 1932 in Ettringen (Rheinland-Pfalz, Eifel) geboren und besaß die italienische Staatsbürgerschaft. Sie war die Tochter eines italienischen Vaters und einer deutschen Mutter und wuchs in Italien zweisprachig auf. Während ihres Aufenthalts im Dominikaner-Internat im italienischen Udine traf sie die Entscheidung, ihr Leben Gott zu schenken, und trat dem Orden Sorelle della Misericordia bei. Diese Ordensgemeinschaft mit der deutschen Bezeichnung ‚Schwestern der Barmherzigkeit‘ mit Mutterhaus in Verona war 1840 von dem katholischen Priester und gebürtigen Tübinger Carlo Steeb gegründet worden. 1951 legte Sr. Carlagnese Nanino ihre Ordensprofess in Verona ab. In Berlin, Reutlingen und Esslingen studierte sie Sozialpädagogik und Supervision.
1957 sandte die Oberin sie nach Tübingen, wo sie die Leitung des Carlo-Steeb-Kindergartens übernahm. Zusammen mit ihren Mitschwestern etablierte sie dort von 1963 bis 1965 einen Kinderhort und ein Tagheim, da die Nachfrage nach einer Ganztagesbetreuung aufgrund gravierender Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt, Zuzügen ausländischer Familien und der Zunahme von Alleinerziehenden stieg. In der Katholischen Kirchengemeinde St. Michael Tübingen war sie seit 1968 tätig. Die Schwerpunkte ihres Wirkens als pastorale Mitarbeiterin betrafen Familien- und Koordinationskreise, die Gemeinde-Caritas-Arbeit und den Sozialausschuss. Darüber hinaus arbeitete sie vor Ort mit ihrer Schwesterngemeinschaft in der Seelsorge mit.
Im Jahr 1987 bündelte sie den Kindergarten, den Kinderhort und das Tagheim zu einer neuen Einrichtung mit dem Namen ‚Kinderhaus Carlo Steeb‘, die sich zu einer bundesweit beachteten pädagogischen Modelleinrichtung entwickelte und deren Leitung sie bis zum Jahr 2009 übernahm. Ordensschwester Sr. Carlagnese Nanino war darüber hinaus stellvertretende Vorsitzende von Carlo Steeb Gründung e.V. Tübingen, dem Trägerverein sozialer Einrichtungen in Berlin, und des Carlo-Steeb-Heims mit Kinderhaus und einem Studentenwohnheim in Tübingen.
Große Verdienste hat sich Sr. Carlagnese Nanino durch die Verwirklichung neuer pädagogischer Konzepte in der Kinderbetreuung erworben. Trotz großer Widerstände verwirklichte sie mit starkem Beharrungsvermögen ihre klare Zukunftsvision entgegen den damaligen konservativen Vorstellungen von Familie und Erziehung, indem sie im Jahr 1987 die drei Einrichtungen Kindergarten, Tagheim und Hort zu einer Einheit bündelte und altersgemischte Gruppen einführte. Diese Modelleinrichtung brach die herkömmliche Form der Kindertagesbetreuung auf.
Sr. Carlagnese Nanino war es ein besonderes Bestreben, Chancengleichheit zu schaffen und den Kindern mit ihren oft sehr unterschiedlichen Bedürfnissen gerecht zu werden, sie ernst zu nehmen und sie bei Entscheidungen einzubeziehen. Auf die Vermittlung der Tugenden Vertrauen und Offenheit legte sie großen Wert.
Die nach dem Prinzip der Gemeinschaft und Toleranz praktizierten Gruppenmischungen schafften neue Strukturen, die Begegnungen zwischen Kindern und Erwachsenen verschiedener Herkunft, Kultur und Religion mit unterschiedlichen Lebens- und Erziehungssituationen ermöglichten. Der Zulauf war riesig, da Kinder aus Gastarbeiterfamilien, von Studentenpaaren und Alleinerziehenden und Kinder aus zerrütteten oder in Not geratenen Familien Hilfe und Unterstützung suchten.
In einem Artikel für die Fachpublikation ‚Welt des Kindes‘ schrieb Sr. Carlagnese Nanino über ihr Kinderhauskonzept, auf das Experten der Pädagogik, der Kirchen, der Politik und von Schulen aus ganz Deutschland aufmerksam wurden. Das neue Konzept fand bundesweite Beachtung und entwickelte sich zum Vorbild der Betreuungseinrichtungen der 1990er-Jahre.
Aufgrund ihres großen Engagements und ihrer Offenheit für die Belange der Schwächsten in der Gesellschaft war ihr die Integration ausländischer Kinder aus sozialen Brennpunkten der Tübinger Südstadt in das Kinderhaus ein weiteres wichtiges Anliegen.
Bereits im Jahr 1996 wurden ihre großartigen Verdienste in der Kinderarbeit durch die Verleihung der Verdienstmedaille des Landes Baden-Württemberg durch Ministerpräsident Erwin Teufel öffentlich gewürdigt. Die Ehrenbürgerschaft der Universitätsstadt Tübingen wurde ihr im Februar des Jahres 2013 in Anerkennung ihrer besonderen Verdienste um die Stadt verliehen.
Bedürfnisorientiert, barmherzig, vertrauend, offen – all diese Worte beschreiben Ordensschwester Sr. Carlagnese Nanino, die mit der Errichtung des Kinderhauses Carlo Steeb einen Markstein im Bereich der pädagogischen Betreuung gesetzt und darüber hinaus für Notleidende, sozial Benachteiligte, Ausländer, Aussiedler, Asylbewerber und Familien Unglaubliches geleistet hat. Die Vorreiterrolle Tübingens im Bereich der Kinderbetreuung verdanken wir ihrer Vorarbeit als Kinderhaus-Pionierin. Trotz ihrer großartigen Verdienste blieb sie stets ein bescheidener Mensch, der es als Pflicht ansah, sich für die Menschen einzusetzen.
Die Universitätsstadt Tübingen verdankt Sr. Carlagnese Nanino äußerst viel. Ihr Tod ist für uns alle ein großer, schmerzlicher Verlust. Die Bürgerschaft, der Gemeinderat und die Verwaltung werden ihr ein ehrendes Andenken bewahren.“