Offener Brief von OB Boris Palmer
Pressemitteilung vom 25.11.2022
Oberbürgermeister Boris Palmer wendet sich mit einem offenen Brief an die Bürgerinnen und Bürger in Tübingen:
Liebe Tübingerinnen und Tübinger,
Tübingen schaltet in tiefer Nacht das Licht aus, Deutschland schaltet die Atomkraftwerke zum Jahresende nicht ab. Das Eine hat mit dem Anderen zu tun. Vizekanzler Robert Habeck hat uns alle und ganz besonders die Kommunen aufgerufen, Energie zu sparen: „Jede Kilowattstunde zählt.“
Tatsächlich ist es gelungen, den Gasverbrauch in Deutschland um ein Viertel zu verringern. Das ist die wichtigste Voraussetzung, um diesen Winter zu überstehen, ohne Industrieanlagen wegen Gasmangel abschalten zu müssen. Teilweise wurde Gas durch andere Energieträger ersetzt, auch durch Strom, sodass hier der Bedarf steigt. Und in unserem Nachbarland Frankreich gelingt es nicht, die stillstehenden Atomkraftwerke in Betrieb zu nehmen. Die Franzosen heizen sehr viel mit Strom und benötigen dafür Importe aus Deutschland. Deswegen ist die Gefahr eines Blackouts in diesem Winter nicht gebannt.
Auch wenn die Eintrittswahrscheinlichkeit sehr klein ist, wäre der Schaden eines Blackouts immens. Hier geht es um Leib und Leben vieler Menschen. Die Ukraine macht derzeit diese furchtbare Erfahrung. Dort sind aktuell mehr als zehn Millionen Menschen ohne Strom, weil das russische Militär die Energieversorgung des Landes angreift. Das müssen wir bedenken, wenn wir fragen, ob es zumutbar ist, das Licht in Tübingen mitten in der Nacht auszuschalten.
Ohne Frage gibt es Zeitungsausträger, deren Arbeit nun im Dunkeln deutlich schwieriger wird, oder Klinikbeschäftigte, die ohne Licht über die Straße gehen müssen. Mir ist auch bewusst, dass sich besonders Frauen im öffentlichen Raum ängstigen, wenn es dunkel ist. Mit der nächtlichen Abschaltung der Straßenbeleuchtung verringert die Stadtverwaltung ihren Stromverbrauch aber um etwa zehn Prozent. Es ist unser mit Abstand größter Beitrag zum Stromsparen in diesem Winter.
Einen realen Sicherheitsverlust müssen wir deswegen nicht befürchten. Tübingen ist fast eine Großstadt, aber die Kriminalitätsrate ist nur halb so hoch wie im Schnitt der baden-württembergischen Großstädte. Es gibt keine Hinweise, dass sich die Zahl der Unfälle oder Straftaten durch die nächtliche Abschaltung der Beleuchtung vergrößern wird. Wir nehmen also eine zugegebenermaßen große Unannehmlichkeit in Kauf, verringern aber damit die Gefahr eines sehr großen realen Schadens. In Rottenburg ist das Licht schon seit Oktober in jeder Nacht aus. Es gibt keine Berichte über echte Probleme.
Alle Fraktionen des Gemeinderates haben am Donnerstag beantragt, eine Partnerschaft mit einer Stadt in der Ukraine einzugehen. Stellen Sie sich vor, die erste Delegation reist diesen Winter an und ich erläutere den Gästen, die daheim jede Nacht Dunkelheit und russische Bombengefahr ertragen müssen, dass unsere Solidarität bereits endet, wenn es darum geht, gemeinsam mit allen Europäern Energie zu sparen, indem wir nachts das Licht abschalten, weil uns das als zu gefährlich erscheint. Wie würden die künftigen Partner wohl auf eine solche Aussage reagieren?
Es geht mir nicht darum, die Nachteile der nächtlichen Verdunkelung zu bagatellisieren. Wohl aber finde ich, dass wir sie ins rechte Verhältnis setzen müssen. Und da komme ich ganz klar zu dem Ergebnis, dass die nächtliche Dunkelheit im Vergleich zu den Gefahren eines Strommangels das kleinere Übel ist. Weil niemand von uns so viel Strom sparen kann, dass er alleine Europa vor dem Blackout rettet, zählt auch das Argument nicht, dass unser Beitrag klein ist. Nur wenn wir alle unseren kleinen Beitrag leisten, kommt eine ausreichend große Einsparung zusammen.
Die Entscheidung über die Stadtbeleuchtung liegt bei mir als Oberbürgermeister. Ich habe den Gemeinderat aber konsultiert und dieser hat mir in einer Sitzung im Oktober mit breiter Mehrheit Unterstützung zugesichert. Daran ändert auch die nachträglich formulierte Kritik einiger Fraktionen nichts. Ich hoffe auf Ihr Verständnis, dass ich in diesem Winter in der Abwägung der Risiken und der notwendigen Solidarität in einer kriegsbedingten Krise an der Abschaltung der Straßenbeleuchtung festhalte.
Für die Zukunft arbeitet die Stadtverwaltung mit den Stadtwerken daran, dass wir den Stromverbrauch der Straßenbeleuchtung soweit absenken, dass derartige Abschaltungen nicht mehr erforderlich werden. In ganz Hirschau haben wir bereits die Technik „Licht nach Bedarf“ eingeführt. Dort reduzieren vernetzte Bewegungsmelder die Stromaufnahme einer Straßenlaterne auf sieben Watt, wenn keine Menschen oder Autos auf der Straße sind. Das entspricht dem Stromverbrauch manches Fernsehers im Standby-Betrieb. Wenn aber jemand auf der Straße unterwegs ist, werden die LED wie von Zauberhand hoch gedimmt. Subjektiv ist es immer hell, objektiv meistens dunkel. Für den Haushalt 2023 werde ich dem Gemeinderat vorschlagen, zwei Millionen Euro einzustellen, um diese Technik, die auch Bestandteil unseres Klimaschutzprogramms ist, möglichst schnell in die Fläche zu bringen.
Gemeinsam können wir in dunkler Zeit daran arbeiten, die Zukunft heller zu machen. Dafür bitte ich Sie um Ihre Unterstützung.
Mit freundlichen Grüßen
Ihr
Boris Palmer