Tötungsdelikt im Alten Botanischen Garten: Rede von Boris Palmer
Pressemitteilung vom 30.03.2023
Der Tübinger Gemeinderat befasst sich in seiner heutigen Sitzung mit dem Tötungsdelikt im Alten Botanischen Garten und der Reaktion des Oberbürgermeisters. Dazu hält Oberbürgermeister Boris Palmer die untenstehende Rede. Die Sitzung des Gemeinderats beginnt um 17 Uhr und ist als Livestream auf der städtischen Internetseite unter www.tuebingen.de/livestream-gemeinderat abrufbar. Der Tagesordnungspunkt 4 (Tötungsdelikt im Alten Botanischen Garten; Reaktion des Oberbürgermeisters) wird voraussichtlich gegen 20 Uhr aufgerufen. Es gilt das gesprochene Wort.
Rede von OB Boris Palmer
Sehr geehrte Damen und Herren,
heute vor einer Woche ist ein junger Mann in Tübingen erstochen worden. Mitten in der Stadt, im Alten Botanischen Garten. Am helllichten Tag. Das schreckliche Verbrechen bewegt viele Menschen in unserer Stadt. Die Trauer und Anteilnahme für Basiru Jallow sind groß. Familie, Freunde und viele Bürger bekunden ihre persönliche Betroffenheit.
So wie das tragische Schicksal des Opfers dieses Messerangriffs viele Menschen erschüttert, bewegt viele Menschen auch die Frage, wie es in unserer friedlichen Stadt zu einer so grausamen Gewalttat kommen konnte. Sie fühlen sich in ihrem Sicherheitsgefühl erschüttert und stellen Fragen, ob genug für den Schutz vor solchen Angriffen getan wurde und getan wird.
Beides schließt sich nicht aus. Beides ist berechtigt. Beides benötigt seinen Raum. Auch mich bewegt der gewaltsame Tod eines Menschen und zugleich die Frage, wie sich solche Verbrechen besser verhindern lassen. Ich habe nach der Tat sowohl Trauer bekundet als auch Ursachenforschung begonnen. Für mich war das kein Widerspruch.
Menschen sind aber verschieden, drücken sich verschieden aus und nehmen verschieden wahr. Ich sehe heute, dass sich viele Menschen gewünscht hätten, dass ich der Trauer mehr Zeit und Raum gebe und die Suche nach den Ursachen zurückstelle. Es war nie meine Absicht, die Gefühle der Trauernden zu verletzen und wo dies geschehen ist, bedauere ich das aufrichtig.
Die teils drastische Kritik, die mir in den letzten Tagen entgegengebracht wurde, könnte zu einer ausführlichen Rechtfertigung verleiten. Ich möchte darauf bewusst verzichten und stattdessen den Versuch machen, um gegenseitiges Verständnis zu werben.
Die schärfste Form der Kritik an meinen Äußerungen lautet, ich sei ein Rassist. Oder in den Worten von Dr. Gomes: „Tübingen hat einen Rassisten gewählt. Tübingen ist rassistisch.“ In meiner Begriffswelt ist das falsch. Ich verstehe aber, dass vor allem junge Menschen einen anderen Begriff von Rassismus haben und darunter auch Verhaltensweisen und Denkmuster subsumieren, die für mich berechtigt, jedenfalls nicht zu beanstanden sind. Das betrifft insbesondere die Analyse und Beschreibung von Unterschieden zwischen Menschen, die sich aus dem Aufenthaltsstatus oder der Staatsbürgerschaft ergeben können. Die Aufgabe, der ich offenkundig nicht gerecht geworden bin, bestünde darin, einen Weg zu finden, diese Sachverhalte so zu thematisieren, dass sie trotz gegensätzlicher Grundeinstellungen diskutierbar werden.
Ein ebenfalls weitreichender Vorwurf lautet, ich habe das Opfer zum Täter gemacht. Dieser Eindruck konnte leider entstehen: Ich habe nicht genug darauf geachtet, meine Überlegungen zu den strukturellen Bedingungen der leider zahlreichen Taten mit ähnlichem Muster vom konkreten Verbrechen im Alten Botanischen Garten zu trennen. Deshalb halte ich fest: Wir wissen über den konkreten Tathergang noch wenig und ich weise dem Opfer keinerlei Schuld an dem tödlichen Angriff zu. Und zwar von Anfang an, denn in meiner ersten Stellungnahme schrieb ich: „Die Tat ist durch nichts zu rechtfertigen.“
Häufig höre ich, dass die Form meiner Intervention auch den notwendigen Teil meiner Aussagen entwertet und eine konstruktive Debatte erschwert bis unmöglich gemacht habe. Das räume ich vollständig ein. Meine Anliegen kommen nicht zur Geltung, die teilweise empörte Diskussion fokussiert sich vollständig auf Streitpunkte, bei denen niemand etwas gewinnen kann. Auch gute Absichten schützen nicht vor schlechten Resultaten. Das ist hier der Fall.
Soweit mein Versuch, die Kritik an meinem Vorgehen aufzunehmen und zu verstehen. Ich beschäftige mich selbstkritisch mit dem, was man als meinen blinden Fleck im Umgang mit Gefühlen anderer bezeichnen kann.
Gerade sprach ich von Absichten. Meine Bitte an Sie wäre, in der weiteren Diskussion das „principle of charity“ zu berücksichtigen. Es besagt, dass man in einem Streit von der günstigsten und stärksten Auslegung der Aussagen eines Kontrahenten ausgehen sollte. Ich würde mich freuen, wenn Sie bei aller berechtigten Kritik mit einbeziehen könnten, dass meine Sorge um die Sicherheit der Menschen in unserer Stadt ernst gemeint ist.
Wenn ich dabei thematisiere, dass wir immer wieder daran scheitern, junge Männer auf einem kriminellen Weg zu stoppen, bevor es zu schweren Straftaten oder gar Tötungsdelikten kommt, so gilt das – wie der aktuelle Fall tragisch zeigt – auch dem Schutz dieser jungen Männer selbst. Auch der Täter fällt unter diese Kategorie.
Wenn ich die Forderung stelle, eine bessere Zusammenarbeit zwischen Sicherheitsbehörden und Sozialarbeit zu gestatten oder das Land stärker in die Pflicht nehmen will, um kriminelles Verhalten bei Asylbewerbern schneller und klarer zu sanktionieren, dann tue ich das aus der Erfahrung, dass wir seit vielen Jahren die allseits bekannten Probleme mit Drogenhandel im Alten Botanischen Garten trotz großer Anstrengungen nicht in den Griff bekommen.
Und wenn Sie mit meinen Forderungen in dieser Hinsicht nicht einverstanden sind, so beziehen Sie bitte mit ein, dass ich die Initiative für das Tübinger Flüchtlingsstipendium und das Projekt „PASST!“ für zielgenaue Sozialarbeit im Alten Botanischen Garten selbst ergriffen habe. Zwei Projekte, an denen Basiru Jallow, das Opfer des Angriffs vom vergangenen Donnerstag, teilgenommen hat. Es gibt sogar ein Foto, das uns gemeinsam beim Start der Ausbildung zum Koch im Hotel Krone zeigt.
Ich habe in den letzten Tagen mit zahlreichen Menschen gesprochen, die Basiru Jallow kannten. Das Bild, das sie mir von seiner Persönlichkeit gezeichnet haben, lässt sich nicht zusammenbringen mit der für mich schockierenden Zahl und Schwere der Tatvorwürfe, die er unter einem anderen Namen aufgrund von Meldungen der Polizei in der Ausländerakte gesammelt hat. Dieses Rätsel werden wir vermutlich nicht mehr auflösen können.
Ich meine aber, dass wir versuchen müssen, aus den Geschehnissen zu lernen. Das gilt selbstverständlich auch für mich.
Vielen Dank, dass Sie mir zugehört haben.