Rede von OB Boris Palmer zum 85. Jahrestag der Reichspogromnacht
Pressemitteilung vom 09.11.2023
Zum 85. Jahrestag der Reichspogromnacht erinnern Rednerinnen und Redner an die Verfolgung und Ermordung Tübinger Juden. Bei der heutigen Gedenkveranstaltung der Universitätsstadt Tübingen, der Geschichtswerkstatt Tübingen und weiterer Kooperationspartner um 18 Uhr am Synagogenplatz in der Gartenstraße spricht auch Oberbürgermeister Boris Palmer:
Es gilt das gesprochene Wort.
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
seit vielen Jahren verlesen junge Menschen am heutigen Datum, dem 9. November, an dieser Stelle, dem Synagogenplatz, die Namen der von den Nazis deportierten und ermordeten Tübinger Juden. Unter ihnen sind die Namen von Paula und Erich Hirsch. Ermordet 1942 in Riga. Sie gehörten beide zu den Nachfahren von Leopold Hirsch, der sich 1850 als erster seit der Verbannung aller Juden in der Zeit Graf Eberhards das Tübinger Bürgerrecht bei der königlichen Bezirksregierung erstritt, nachdem die Stadt ihm dies zunächst verweigert hatte.
Ein Sohn von Leopold Hirsch war Robert Hirsch, über den Wilfried Setzler soeben ein sehr lehrreiches und lesenswertes Buch geschrieben hat. Diesem Buch habe ich ein bemerkenswertes Zitat von Theodor Hirsch, des Schwiegersohnes von Robert Hirsch, aus dessen Erinnerungen entnommen. Er hatte es noch 1941 geschafft, mit seiner Familie in die USA zu fliehen und schrieb dort als Resümee der Nazizeit:
„Dies sind nur einige Steinchen im Mosaik meiner Erfahrungen mit Einzelpersonen von 1933-1941, die sich noch um viele vermehren ließen. Würde man aber nun aus ihnen ein Bild zusammensetzen, so würde etwas Grundfalsches dabei herauskommen. Denn diese farbigen Steinchen verschwinden unter der Unmenge von farblosen Steinchen, die durch die Lauen und die Herzensträgen gebildet werden, die sich nicht um das Los der Juden kümmerten. Und diese sind die Ursache, dass die Nazi-Bewegung und der Antisemitismus so ungeheure Ausmaße annehmen konnten. Sie bilden die Gefahr in jedem Land.“
Dies ist ein Gedanke, den mir mein Vater in exakt derselben Weise stets vermittelt hat: Erst die Masse der Mitläufer hat Hitlers Verbrechen ermöglicht. Noch heute steht auf meinem elterlichen Haus deswegen der Satz: „Zivilcourage ist die erste Bürgerpflicht.“
Wie ist es damit bei uns bestellt? Dieser Abend dient in einer guten Tradition der Erinnerung besonders der Tübinger Opfer der Judenverfolgung in der Nazizeit. Ich bedanke mich bei Ihnen allen, die Sie deswegen heute hier sind und oft schon viele Jahre an dieser Veranstaltung teilgenommen haben.
Allein, man kann heute nicht beim Gedenken stehen bleiben. Der israelische Parlamentspräsident Jitzchak Herzog sagte nach den blutrünstigen und menschenverachtenden Terrorangriffen der Hamas: „Seit dem Holocaust haben wir nicht mehr erlebt, wie jüdische Frauen und Kinder, Großeltern – sogar Holocaust-Überlebende – in Lastwagen gepfercht und in die Gefangenschaft gebracht wurden.“ Seit dem Holocaust sind nie wieder so viele Juden an einem Tag ermordet worden wie am 7. Oktober 2023.
Nie wieder. Hatten wir uns das nicht alle geschworen? Und was tun wir heute? In Tübingen? Auf dem Holzmarkt fanden bereits zwei Demonstrationen statt, bei denen Israel angeklagt und nicht verteidigt wurde. Am letzten Samstag war im Tagblatt ein Foto von einer dieser Kundgebungen zu sehen, in dessen Bildmitte ein Plakat deutlich lesbar gezeigt wurde. Dort stand „Recht auf Freiheit“ mit einem grünen Haken. Danach folgte eine Reihe von roten Kreuzen der Ablehnung hinter den Aussagen: „Recht auf Besatzung“. „Recht auf Ausbeutung“. Und als Höhepunkt „Recht auf Völkermord“. Diese Rechte kann es niemals geben. Aber die perfide Technik des Plakats besteht darin, das alles Israel vorzuwerfen, ohne den Namen Israel zu nennen. Die Botschaft ist verklausuliert und doch glasklar: Israel ist ein Ausbeuter. Israel ist Besatzungsmacht. Israel betreibt Völkermord. Ich habe auch ein Plakat gesehen, auf dem Israel der Genozid an den Palästinensern explizit zugerechnet wurde.
Und was ist geschehen? Nichts. Das Tagblatt selbst hat sein Foto nicht erläutert, eingeordnet oder gar meinungsstark kritisiert. In unserer Stadt gibt es zu allem und jedem Leserbriefe. Manchmal reicht ein falscher Satz für ganze Leserbriefseiten. Aber kein Wort zu dieser infamen Täter-Opfer-Umkehr?
Ich stehe als Mensch mit jüdischen Vorfahren über viele Generationen traurig und verständnislos vor Ihnen. In einer Situation, in der Israel auf so bestialische Weise angegriffen wurde, erwarte ich eine klare Parteinahme für Israel, gegen die Hamas. Und keine scheinbar ausgleichenden Friedensappelle an alle Seiten oder deutsche Enthaltungen bei Uno-Resolutionen, die gegen Israel gerichtet sind.
Vor dem 7. Oktober gab es gute Gründe, die Siedlungspolitik und die Schwächung der israelischen Demokratie durch die eigene Regierung zu kritisieren. Im Angesicht des erwiesenen Vernichtungswillens der Hamas hat Israel jetzt aber unsere Solidarität verdient. Nicht nur aus Staatsraison, das scheint mir sehr abstrakt. In den bewegenden Worten der früheren Außenministerin Israels, Tzipi Livni: „Die Situation ist tatsächlich furchtbar: Es gab die Gräueltaten vom 7. Oktober. Jetzt fallen unsere Soldaten in Gaza. Der Antisemitismus hebt überall auf der Welt sein hässliches Haupt. Wir haben unser Sicherheitsgefühl verloren.“
Unser Land hat den Holocaust organisiert und durchgeführt. Wir haben den Juden das Gefühl eingebrannt, nirgends auf der Welt sicher zu sein. Israel ist das einzige Land auf der Welt, in dem Juden einigermaßen sicher leben können. Dafür haben die Juden 1948 mit Unterstützung der UN und des britischen Mandatsträgers den Staat Israel als „sichere Heimstätte für das jüdische Volk“ gegründet. Diese Staatsgründung musste gegen einen sofortigen Angriff der arabischen Nachbarländer verteidigt werden. Und bis heute existiert der Staat Israel nur, weil er sich militärisch der Vernichtung durch seine Nachbarstaaten erfolgreich widersetzt.
In Deutschland oder Frankreich ist die Gefahr antisemitischer Übergriffe heute wieder so groß, dass Juden nach Israel auswandern und Synagogen hierzulande Festungen gleichen. Es ist deswegen einfach nicht statthaft, Israels Gegenwehr nach diesem Angriff zu diskreditieren und die Schuld an den Terrorakten und den zivilen Opfern im Gazastreifen der israelischen Politik zuzuschieben. Genau das erlebe ich aber in Tübingen wieder und wieder. Eine israelische Flagge vor dem Tübinger Rathaus erschiene mir deswegen schlicht unredlich. Sie würde eine Solidarität vortäuschen, die ich so nicht erlebe. Erinnerung ist gut. Gedenken ist gut. Aber die Zeit, Israel beizustehen, ist gekommen. Die Lauen und die Herzensträgen, sie sind wieder aufgefordert, sich zu entscheiden. Nie wieder, das ist jetzt.