Juni 2022: Forschungsbesuch im Stadtarchiv
Auf den Spuren eines jungen Niederländers, der während des Kriegs Zwangsarbeit im Gaswerk leistete
Rinus Nuijten und seine Ehefrau aus den Niederlanden besuchten für Forschungszwecke im Juli 2022 das Tübinger Stadtarchiv. Sie erkundigten sich über das frühere Gaswerk im Eisenhut. Dort hatte nach Auskunft des Archivs des Internationalen Suchdienstes in Arolsen sein Vater während des 2. Weltkriegs gearbeitet. Nach der Besetzung der Niederlande durch die Wehrmacht hatten auch viele Niederländer Zwangsarbeit im Deutschen Reich zu leisten. Je länger der Krieg dauerte, desto mehr wurde dort die Arbeitsdienstpflicht ausgeweitet und ab Mai 1943 schließlich ganze Geburtsjahrgänge zwangsverpflichtet. Darunter waren auch Baptist Johannes Nuijten und drei seiner Landsleute, alle Jahrgang 1924, die am 23. Juni 1943 ihren Arbeitsdienst im Tübinger Gaswerk antraten.
Nach dem Krieg ist Baptist Nuijten nur noch einmal in Tübingen gewesen. Die Familie verbrachte im Juli 1968 ihren Urlaub im Nordschwarzwald und unternahm von dort aus einen Tagesauflug in die Universitätsstadt am Neckar. Rinus Nuijten hat von diesem Ausflug ein Foto mitgebracht und berichtet: „Auf dem Bild sind mein Vater und ich zu sehen. Wir stehen neben dem Gebäude, in welchem mein Vater im Krieg untergebracht war.“ Mit Hilfe eines Luftbildes von 1956 lässt sich die genaue Lage des einstöckigen Gebäudes auf dem Areal des früheren, bereits stillgelegten Gaswerks im Eisenhut bestimmen. Es befindet sich am rechten Bildrand über dem Bahngleis. Direkt links daneben steht das Ofenhaus, in dessen Retorten das Gas bis 1948 erzeugt wurde. Alle Gebäude und die beiden Gasometer auf dem Luftbild gibt es heute nicht mehr. Das Areal ist nach Beseitigung der Altlasten völlig neu mit dem Verwaltungssitz und dem Materiallager der Stadtwerke Tübingen überbaut worden.
Die Baracke, 1934 errichtet für einen Vortrags- und Schulungsraum, diente während des Krieges als Unterkunft für die im Gaswerk beschäftigten ausländischen Arbeiter. „Da gab es Stroh und Flöhe“ sagt Rinus Nuijten. Er erwähnt außerdem, dass sein Vater dort „nicht eingesperrt gewesen sei und in seiner Freizeit in die Stadt gehen konnte“. Baptist Nuijten, der als Schlosser tätig war, hatte allerdings wenig freie Stunden. Wie die im Stadtarchiv überlieferten Taglohnlisten belegen, betrug seine Wochenarbeitszeit meistens über 50 Stunden. Manchmal waren es sogar 60 - 70 Stunden. Als Stundenlohn erhielt Nuijten 72, zuletzt 78 Pfennige. An seinem letzten Arbeitstag, am 17. April 1945, arbeitete er nochmals 12 Stunden. Am Nachmittag dieses Tages gab es schwere Luftangriffe, die u.a. zum Totalausfall der Gasversorgung führten. Am nächsten Tag endete für ihn und seine drei Landsleute, für zwei Belgier, einen Franzosen, drei Russen, drei Ukrainer und eine Ukrainerin die Zwangsarbeit im Gaswerk, bevor einen weiteren Tag später am 19. April französische Truppen Tübingen besetzten.
Danach sei Baptist Nuijten aus Tübingen „abgehauen“, wird in der Familie erzählt. Vermutlich schlug sich der inzwischen 21-Jährige noch vor dem offiziellen Kriegsende aus eigener Kraft nachhause zu seiner Mutter durch. Als er dort eintraf, trug er eine amerikanische Uniform. „Mein Vater war nicht verbittert“ sagt Rinus Nuijten abschließend, „er blickte nicht mit Groll auf die Jahre in Tübingen zurück“.