Zwangssterilisationen im Nationalsozialismus
Station im Stadtrundgang: Geschichtspfad zum Nationalsozialismus
Nervenklinik, Osianderstrasse 22
Stele Nr. 9/ Seite A
In der NS-Zeit wurden Patienten der Universitätsklinik Opfer von Medizinverbrechen. Tübinger Ärzte waren unmittelbar an der Umsetzung des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ beteiligt. Sie führten über tausend Zwangssterilisierungen durch, vor allem an psychisch kranken oder angeblich „schwachsinnigen“ Menschen.
Die Nervenklinik zeigte im Jahr 1934 mehr als ein Drittel ihrer Patienten bei den zuständigen Behörden zur Sterilisation an. Allein 1936 erstellten ihre Mitarbeiter 180 Gutachten für Sterilisationsverfahren. In der Frauen- und der Chirurgischen Klinik wurden zwischen 1934 und 1944 mehr als 1.100 als „erbkrank“ erklärte Männer, Frauen und Jugendliche unfruchtbar gemacht. Mindestens vier Frauen starben an den Folgen des Eingriffs.
Die Tübingerin Anna W. beschrieb, wie sie zur Operation in der Frauenklinik gezwungen wurde: „Dieser Eingriff erfolgte seinerzeit gegen den ausdrücklichen Willen meines Mannes und mir. (…) Wenige Tage vor dem Eingriff bekam ich eine Vorladung vom Gesundheitsamt Tübingen, in welcher ich aufgefordert wurde, mich in der Frauenklinik einzufinden, widrigenfalls ich mit polizeilicher Vorführung zu rechnen habe.“
Im letzten Kriegsjahr nahmen Tübinger Universitätsmediziner auf Anordnung des Reichskriminalpolizeiamts aus „rassischen“ Gründen Zwangssterilisierungen an Sinti vor.
Bild 1
Der Gynäkologe August Mayer (1876–1968), Direktor der Frauenklinik von 1917 bis 1949, in einer Lehrveranstaltung, Foto undatiert. Unter seiner Leitung wurden an der Frauenklinik mindestens 655 Frauen zwangssterilisiert. Foto: Universitätsarchiv Tübingen
Bild 2
Robert Gaupp (1870–1953), Direktor der Nervenklinik, forderte in dieser Schrift bereits 1925 eugenische Sterilisationen. Er war kein Mitglied der NSDAP. Eugenische Positionen waren ab den 1920er Jahren international verbreitet und wurden in Deutschland von vielen Parteien geteilt. Die Sterilisationspraxis begann 1934. Bild: Universitätsbibliothek Tübingen
Bild 3
Robert Ritter (1901–1951), rechts, befragt eine Sintizza, Foto undatiert. Ritter war bis 1935 Oberarzt an der Nervenklinik. Er leitete ab 1936 eine Forschungsstelle in Berlin, die knapp 24.000 Menschen als „Zigeuner“ oder „Zigeuner-Mischlinge“ klassifizierte. Diese Daten dienten ab 1943 der Auswahl zu Deportationen. Foto: Bundesarchiv Koblenz