Zwangsarbeit in Stadt und Universität
Station im Stadtrundgang: Geschichtspfad zum Nationalsozialismus
Nervenklinik, Osianderstrasse 22
Stele Nr. 9/ Seite B
In Tübingen mussten während des Zweiten Weltkriegs mindestens 1.700 ausländische Zivilisten und Kriegsgefangene in der Wirtschaft und im öffentlichen Dienst Zwangsarbeit leisten. Sie waren zumeist aus besetzten Ländern verschleppt worden. Die nationalsozialistische Kriegswirtschaft beruhte maßgeblich auf Zwangsarbeit.
Allein die Universität beschäftigte mindestens 152 Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene aus zwölf Ländern, davon 143 an den Universitätskliniken – unter anderem hier an der Nervenklinik. Die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter in Tübingen waren in neun Lagern für Kriegsgefangene und 27 Lagern für zivile Zwangsarbeiter im gesamten Stadtgebiet untergebracht.
Holzbaracken oder Ställe als Quartier
Die Betroffenen wurden einer „rassischen“ Abstufung entsprechend unterschiedlich behandelt. Am schlechtesten war die Arbeitssituation, Versorgung und Unterbringung von polnischen und sowjetischen Zwangsarbeitern. Oftmals waren sie nur in Holzbaracken oder Ställen einquartiert, wie etwa im Hof der Gaststätte Marquardtei in der Herrenberger Straße. Sie kamen aufgrund von Hunger und Krankheiten am häufigsten zu Tode. Die Situation variierte jedoch auch je nach Arbeitgeber: Bei der Reichsbahn und in Industriebetrieben waren die Unterkünfte und die Versorgung mit Lebensmitteln und Medikamenten meist schlechter als in der Landwirtschaft, an der Universität oder in Privathaushalten.
Flucht oder abweichendes Verhalten bestrafte die Geheime Staatspolizei (Gestapo) mit abschreckenden Maßnahmen. So inhaftierte sie die polnische Zwangsarbeiterin Eugenia Szalaty nach einem Fluchtversuch für acht Wochen im „Arbeitserziehungslager“ Rudersberg bei Welzheim. Auf sexuelle Beziehungen von Polen oder „Ostarbeitern“ mit deutschen Frauen stand die Todesstrafe wegen „Rassenschande“.
Bild 1
Karte der Standorte von Zwangsarbeiter- und Kriegsgefangenenlagern im Tübinger Stadtgebiet zwischen 1939 und 1945. Karte: Universitätsstadt Tübingen, Kartengrundlage: Amtlicher Stadtplan
Bild 2
Zwangsarbeiterin mit „Polenabzeichen“, Foto undatiert. Polnische und sowjetische Zwangsarbeiter mussten auf ihrer Kleidung ein sichtbares Abzeichen („P“ bzw. „OST“) tragen. Dadurch wurde ihr Ausschluss beispielsweise aus Kinos, Gaststätten und öffentlichem Nahverkehr überwacht. Foto: Stadtarchiv Tübingen
Bild 3
Eugenia Szalaty beim Besuch ehemaliger Zwangsarbeiter in Tübingen auf Einladung der Stadtverwaltung, 1991. Sie wurde 1940 aus Rzeszow (Polen) nach Tübingen verschleppt, wo sie in der Küche der Chirurgischen Klinik arbeiten musste. Foto: Stadtarchiv Tübingen