Familie Hirsch und Fritz Bauer
Station im Stadtrundgang: Geschichtspfad zum Nationalsozialismus
Kronenstraße 6
Stele Nr. 17 / Seite A
Textilhändler in Tübingen über drei Generationen
Das Haus Kronenstraße 6 war von 1859–1938 Sitz des Textilgeschäftes Leopold Hirsch und Wohnhaus der Familie.
1850: Kampf ums Bürgerrecht – Umzug nach Tübingen
Leopold Hirsch (1807–1875) gründete das Geschäft 1859. Er kam aus Wankheim und war dort als Landwirt und Händler zu Wohlstand gekommen. Er wollte nach Tübingen umziehen, dort ein Geschäft eröffnen und seinen Kindern den Besuch höherer Schulen ermöglichen. Juden hatten jedoch seit ihrer Vertreibung aus Tübingen 1477 dort kein Wohnrecht. Leopold Hirsch erkämpfte sich 1850 als erster Jude gegen den massiven Widerstand des Tübinger Gemeinderats das Bürgerrecht und damit das Recht, nach Tübingen umzusiedeln. 1859 kaufte er das Gebäude Kronenstraße 6, wohnte dort mit seiner Frau Therese (1813–1895) und den Kindern und übergab das Geschäft 1875 an Gustav, einen seiner Söhne.
1875–1910: Gustav Hirsch führt das Geschäft erfolgreich weiter
Gustav Hirsch (1848 –1933) und seine Frau Emma (1853–1915) wohnten mit ihren sechs Kindern über dem Geschäft. Hirsch war in der Tübinger Stadtgesellschaft gut integriert, war engagiertes Mitglied im Tübinger Bürgerverein und Synagogenvorsteher. Er starb 1933 in Tübingen. Von den sechs Kindern starben zwei schon in jungen Jahren, zwei wurden von den Nationalsozialisten ermordet: Paula (1897–1942, Riga) und Arthur (1886 –1938, Dachau). Zwei Kinder konnten aus Deutschland fliehen: Ella (1881–1955, Schweden) und Leopold (1876 –1966, Südafrika).
1910–1938: Leopold Hirsch wird aus Tübingen vertrieben
Leopold Hirsch, der älteste Sohn von Gustav Hirsch, führte das Geschäft seit 1910. Nach 1933 kauften trotz offizieller Boykottmaßnahmen viele Kunden, vor allem aus der Unterstadt, weiterhin „beim Hirsch“. Doch die nationalsozialistische Stadtverwaltung und das Finanzamt schikanierten ihn mit Betriebsprüfungen und Steuernachforderungen. Nach der Pogromnacht am 9. November 1938 wurde er für vier Wochen in das KZ Dachau verschleppt. Nach dem allgemeinen Verbot für jüdische Geschäftsleute, ihre Unternehmen weiterzuführen, musste er sein Geschäft an das NS-Mitglied Josef Tressel verkaufen. Der Erlös fiel unter anderem an die Finanzbehörden. Völlig mittellos flüchtete er 1939 mit seiner Frau Johanna zu seinen schon emigrierten Kindern Lore und Walter nach Südafrika. Dort starb Johanna 1942 und Leopold 1966. Ihre Enkel und Urenkel leben heute unter anderem in Südafrika und Israel.
Bild 1
Textilgeschäft Hirsch, Kronenstraße 6, 1920er Jahre
Foto: Eugen Rühle / Stadtarchiv Tübingen
Bild 2
Gustav und Emma Hirsch in Tübingen, 1920er Jahre
Foto: Privat
Bild 3
Familie Hirsch in Südafrika 1952
Von links nach rechts vorne: Leopold Hirsch mit seiner Tochter Lore Silbermann und der Schwiegertochter Stephanie Hirsch, geb. Spangenthal und den drei Enkelinnen Janette, Carol und Monica.
Stehend von links nach rechts: Sohn Walter, Enkel Martin mit seinem Vater Arno Silbermann.
Foto: Privat
Kronenstraße 6
Stele Nr. 17 / Seite B
Fritz Bauer (1903–1968)
Jurist, Staatsanwalt, Aufklärer von NS-Verbrechen
Fritz Bauer ist der Enkel von Gustav und Emma Hirsch. Seine Mutter, Ella Hirsch, wuchs in der Kronenstraße 6 auf und heiratete den Kaufmann Ludwig Bauer aus Stuttgart.
Die Familie lebte in Stuttgart, wo Fritz Bauer und seine Schwester Margot geboren wurden. Fritz Bauer war als Kind oft in den Ferien bei seinen Großeltern in Tübingen. Er erinnerte sich:
„Wenn ich … rückwärts schaute, stets standen Tübingen, die alte Kronenstraße und ihre Menschen, der betriebsame Markt mit Duft und Lärm, die idyllische Stille der Allee, der Humanismus der Aula vor mir. … Es ist schwer, alle Gefühlswerte wiederzugeben, die das steile Sträßchen für mich barg und die ich heute noch nicht vergessen kann. Alles, auch alles hatte seine Reize … Wenige Häuser entfernt sah, ja schmeckte man das Café … Alles, was das Herz begehrte, war da...“
Fitz Bauer studierte unter anderem in Tübingen Rechtswissenschaften, wurde jüngster Amtsrichter in Württemberg und war Mitglied der SPD. 1933 wurde er entlassen und floh nach Dänemark und Schweden. 1949 kehrte er nach Deutschland zurück. Von 1956 bis 1968 war er Generalstaatsanwalt in Hessen und in dieser Funktion – gegen große Widerstände – der wichtigste Initiator der Auschwitz-Prozesse von 1963 bis 1965. Die Prozesse bewirkten, dass sich erstmals nach dem Krieg eine breite Öffentlichkeit mit der Shoa auseinandersetzte. Schon zuvor hatte sich Bauer für die Rehabilitierung der Attentäter des 20. Juli eingesetzt. Auch war er maßgeblich an der Festnahme von Adolf Eichmann – einem der Hauptbeteiligten an der Ermordung von rund sechs Millionen Juden in Europa – in Argentinien durch den israelischen Geheimdienst beteiligt.
Fritz Bauer setzte sich nach dem Zweiten Weltkrieg auch für eine Humanisierung der Rechtsprechung und die demokratische Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland ein, die noch vielfach von der NS-Vergangenheit geprägt waren. Mit Vorträgen und Publikationen beteiligte er sich aktiv an der Modernisierung und Liberalisierung des Sexualstrafrechts und sprach sich für eine weitgehende Straffreiheit von Homosexualität aus. 2014 beschloss der Tübinger Gemeinderat, die Scheefstraße auf dem Österberg in Fritz-Bauer-Straße umzubenennen. Adolf Scheef, von 1927 bis 1939 Oberbürgermeister, kollaborierte mit den Nationalsozialisten, um im Amt zu bleiben.
Bild 4 (oben)
Blick in den Gerichtssaal des Haus Gallus während der Verhandlung des ersten Frankfurter Auschwitz-Prozesses, 1964/65
Foto: Joachim Kügler / © Fritz Bauer Institut, Frankfurt am Main
Bild 5
Fritz Bauer im ›Club Voltaire‹, Frankfurt am Main, ca. 1965–1968
Foto: Siegfried Träger / © Fritz Bauer Institut, Frankfurt am Main
Bild 6
Familie Bauer in Stuttgart, um 1910
Von links nach rechts: Ella Bauer, geb. Hirsch (Tochter von Gustav und Emma Hirsch, 1881, Tübingen – 1955, Göteborg / Schweden), Margot Bauer (1906, Stuttgart – 1992, Stockholm / Schweden), Ludwig Bauer (1870, Tübingen – 1945, Göteborg / Schweden), Fritz Bauer (1903, Stuttgart – 1968, Frankfurt)
Foto: Privat
Bild 7
Fritz Bauer als Student, 1924
Foto: unbekannt / © Fritz Bauer Institut, Frankfurt am Main