Initiative Homosexualität Tübingen (1973-1998)
Im Frühjahr 1973 gründete sich auch in Tübingen eine Homosexuellengruppe: die Initiativgruppe Homosexualität Tübingen, die ihr Kürzel „IHT“ zeitgenössisch modern meist klein als „iht“ schrieb. Wie die meisten studentisch geprägten Gruppierungen der Zeit ging es auch der IHT um den Kampf gegen die Vereinzelung, um die Sichtbarmachung von Homosexualität in der Öffentlichkeit und um die Einforderung von Anerkennung.
Bei der Gründung der IHT engagierten sich hauptsächlich Studierende der Theologie. Zu den bekanntesten von ihnen gehörte Reinhard Brandhort. Er wurde 1942 in Herford geboren, begann seine Ausbildung in Bethel und kam zum Wintersemester 1968/69 für sein Studium der Evangelischen Theologie und Sozialpädagogik nach Tübingen. Durch ein Stipendium hatte er genügend Zeit, sich trotz Studium der politischen Arbeit zu widmen. Laut Brandhorst sei der Anlass, unbedingt etwas tun zu müssen, dramatisch gewesen: Innerhalb kurzer Zeit hätten drei befreundete Kommilitonen Suizid begangen, zwar aus jeweils unterschiedlichen privaten Gründen, aber alle drei hätten mit ihrer Homosexualität Schwierigkeiten gehabt.
Der eigentliche Auslöser zur Gründung der IHT war im Frühjahr 1973 eine Veranstaltung der Heidelberger Gruppe „homo heidelbergensis“, wo Brandhorst mit seinen aufgewühlten Freunden war. Mit dabei war auch der 1942 in Oberndorf am Neckar geborene Soziologe und Sexualforscher Martin Dannecker, der schon damals als Ikone der neuen deutschen Schwulenbewegung galt. Von ihm stammt der durchdringend gesprochene Text in Rosa in Praunheims revolutionärem Film „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“ von 1971. Mit seinem Plakat „Brüder und Schwestern, schwul oder nicht, Sozialismus bekämpfen ist unsere Pflicht“ nahm Dannecker 1972 in Münster an der ersten Homosexuellen-Demonstration Deutschlands teil.
Die IHT bezeichnete sich zwar als offen für homosexuelle Frauen, Bisexuelle und interessierte Heterosexuelle, aber unter den aktiven Mitgliedern waren fast nur schwule Männer. Zum ersten Mal an die Öffentlichkeit ging die IHT mit Handzetteln und der Plakataktion „Weg mit dem §175“. Im Mai 1973 feiern die 35 Mitglieder, die meisten davon Studenten, ihr Gründungsfest. Über die Gründung berichtet das Schwäbische Tagblatt am 26. Mai 1973 unter der Überschrift „Homosexuelle werden aktiv“. Der ausführliche und sachliche Beitrag von Christoph Müller ist betont nutzerfreundlich und nennt Kontaktdaten. Er wird lediglich an einer Stelle ironisch: Wenn es über die Arbeit der IHT heißt, sie befasse „sich vorerst hauptsächlich mit eigenen Problemen der Selbstfindung und Selbstbefreiung“.
In den Anfangsjahren war Reinhard Brandhorst verantwortlich für die vielen Flugblätter sowie andere Veröffentlichungen der IHT und stellte sogar seine private Adresse als offizielle Anschrift der Gruppe zur Verfügung. Das war ein mutiger Schritt, der in dieser Zeit auch negative Konsequenzen hätte nach sich ziehen können. 1978 war Brandhorst auf dem Evangelischen Kirchentag in West-Berlin Mitgründer der Gruppe Homosexuelle und Kirche (HuK) und etablierte auch in Tübingen eine Regionalgruppe. Danach ging er als Pfarrer nach Stuttgart, wo er sein Engagement fortsetzte.
Wie zahlreiche andere Gruppen der 1970er-Jahre zelebrierte auch die IHT das Gemeinschaftsgefühl auf gemeinsamen Feiern: Partys fanden zunächst in der Kellerei, dem ehemaligen Weingeschäft Waiblinger in der Schwärzlocher Straße 79, statt. Später konnte die Gruppe den Keller des Studierendenwohnheims Pfleghofstraße 5 nutzen, dann den Keller der Marquardtei in der Herrenberger Straße 34. Dorthin lud die IHT für den 13. Mai 1977 zu einem „schwulen schwulenfest“ ein. In den 1980er-Jahren fanden die angesagten Partys im Club Voltaire in der Haaggasse 26B statt.
Probleme hatte die IHT immer wieder mit Institutionen. Im Mai 1976 untersagte der Oberkirchenrat der Evangelischen Kirche die zuvor zugesagte Nutzung der Räume der Evangelischen Studentengemeinde im Schlatterhaus für eine Party der IHT. Anstoß genommen hatten die Kirchenvertreterinnen und -vertreter an der Formulierung auf den Plakaten „Schwul – na und“. Anfangs hat die IHT einen regelmäßigen Montagstreff im Kommunikationszentrum in der Münzgasse 7. Nach einiger Zeit war man für diese regelmäßigen Treffen auf wechselnde Orte angewiesen.
Von der IHT gingen maßgebliche Bestrebungen zu einer Vernetzung der Gruppen aus Südwestdeutschland aus. Hierdurch versprachen sich die Aktivisten eine bessere politische Durchschlagskraft. Bereits 1973 gab es die ersten Vernetzungstreffen in Tübingen. Am 13. und 14. Oktober 1973 waren Gruppen aus Zürich, St. Gallen, Konstanz, Freiburg, Heidelberg, Würzburg und Stuttgart eingeladen. Seit 1974 wurde mit anderen Gruppen die Zeitschrift „emanzipation“ herausgegeben. Die Treffen waren Vorläufer der Schwulen Aktion Südwest (sas), die 1979 gegründet wurde.
Zusammen mit der Initiativgruppe Homosexualität Stuttgart (IHS) organisierte die IHT 1979 den ersten Christopher Street Day in Stuttgart. Er fand zeitgleich auch in Berlin und in Bremen statt und markierte den Beginn der heutigen großen Umzüge, zu denen Hunderttausende kommen. Nur ein Jahr später half man im Sommer 1980 bei der Organisation des „Schwules Befreiungstags in der finsteren Schwulenprovinz Reutlingen“: Am 28. Juni 1980 gab es einen Demonstrationszug vom Reutlinger Bahnhofsvorplatz zur Altstadt, ein Picknick auf der Neckarinsel in Tübingen und am Abend eine Party im „Club“, in der Wilhelmstraße 30 in Tübingen.