Salon der Hundert (1969-1977)
Mit dem Ziel, einen alternativen Ort der Begegnung und Kultur zu schaffen, hatte sich 1969 in Tübingen der Verein „Salon der Hundert“ gegründet. Dessen gleichnamiger Club existierte bis 1977, war weit über Tübingen hinaus bekannt und ist vielen heute noch gut in Erinnerung. Die Clubräume lagen im ersten Stock eines Altbaus am Rande der Tübinger Altstadt. Zugang zum „Salon der Hundert“ hatten laut Satzung ausschließlich Vereinsmitglieder und deren Gäste. Da der Ausschank nicht gewerblich war, konnte man bis in die Morgenstunden bleiben.
Besucherinnen und Besucher mussten an der Haustür klingeln. Wenn ihnen geöffnet wurde, tat sich hinter der unscheinbaren Hausfassade eine andere Welt auf, wie es einem Bericht einer Begehung des Tübinger Bauordnungsamtes 1969 zu entnehmen ist: „Zu dem Schankraum gelangt man durch einen vier Meter langen, mit Gold-, Gelb- und Silberfolie ausgeschlagenen Hausflur und eine mit rotem Teppich belegte Treppe. Man betritt den Raum über eine mit Reisstrohmatten belegte Fläche, die am Ende der sich links befindlichen Bar aufhört. Das Ende des Bartisches stellt gleichzeitig die Grenze dar zu dem vier mal vier Meter großen Raum. Dieser ist ganz ausgelegt mit einem großen, ungemein weichen roten Bodenteppich. In der Mitte des Bohemiensaales liegt auf dem Boden eine große mit Wasser gefüllte Glasschale, in der je nach Saison Blumengebinde eingesteckt sind (zurzeit Seerosen). Rings um das ausgelegte Blumenarrangement sind zwei große Felle, ein orientalisches Sitzkissen und zwei Korbstühle als Sitzgelegenheit für die Gäste vorhanden. Vorhanden sind auch zwei Fenster zur Neckarfront und eines schräg zum Gasthof Traube.“ Nach einem Brand 1971 bezog der Verein Räume im unweit gelegenen Wienergäßle 2.
Ziele des Vereins waren laut Satzung „die Förderung junger Künstler und die Auseinandersetzung mit moderner Kunst; er will durch wechselnde Ausstellungen, durch Dichterlesungen, Diskussionen, Musikabende und ähnliche Veranstaltungen vor allem jungen Talenten die Gelegenheit geben, ihre Werke zur Diskussion zu stellen.“ 1973 zählte der Verein 100 Mitglieder. 20 bis 30 von ihnen waren während der Clubtage von Dienstag bis Sonntag in den Räumen anwesend.
Die Seele des „Clubs“, wie die Vereinsräume des „Salons der Hundert“ genannt wurden, war Lilli Schönemann (1941-2015). Den meisten Gästen war sie nur als „Jeanne“ bekannt. Im Salon, aber auch außerhalb war Jeanne nur in Schwarz gekleidet, hatte schwarz gefärbte Haare und als Kontrast dazu ein hell gepudertes Gesicht mit rot geschminkten Lippen. Vermutlich waren es Anleihen an den Stil der französischen Sängerin Juliette Greco (1927-2020). Deren strikt schwarzes Outfit war ein Bekenntnis zur (Nicht-)Farbe des Existentialismus. Grecos Chansons wurden oft im Club gespielt. Andere erinnerte Jeannes Auftreten an die deutsche Schriftstellerin Gisela Elsner (1937-1992), die wie Juliette Greco für ihren nonkonformistischen Lebensstil geschätzt wurde. Auf die Tübinger Behörden wirkte Jeannes Erscheinung befremdlich: Am Rande eines Blattes aus der Gaststättenakte findet sich bei Lilli Schönemanns Namen der handschriftliche Vermerk „Fledermaus“.
Vom Anfang bis zur Einstellung des Clubbetriebs 1977 war Jeanne als prägende Figur verantwortlich für die ungewöhnliche Einrichtung der Räume, das künstlerische Programm und die Musikauswahl. Sie war auch diejenige, die darüber entschied, welche Bekannten eines Mitglieds eingelassen wurden und welche nicht. Obwohl Jeanne eine öffentliche Person in Tübingen war, ist über sie selbst bislang nur wenig bekannt. Ihr Privatleben hielt sie geschützt. Laut städtischer Meldekarte war sie kurze Zeit mit einem Griechen verheiratet. Geliebt haben soll sie aber Männer und Frauen: „Jeanne war bisexuell, aber ihre Beziehungen hat man nicht mitbekommen“, so ein Zeitzeuge. In der Gaststättenakte wird Jeanne 1969 als „bekannte Künstlerin“ bezeichnet, als ihr Beruf ist „Grafikerin“ angegeben. Nach der Schließung des „Salons der Hundert“ 1977 soll sie in der Modebranche in Stuttgart tätig gewesen sein.
Jeanne machte den „Salon der Hundert“ zum Anlaufpunkt für ganz unterschiedliche, auch nicht heterosexuelle Menschen, die einen Gegenentwurf zu den herkömmlichen Lokalen suchten. Die bunte Mischung der Mitglieder und Gäste war eine Attraktion. Der „Club“ blieb oft bis 4 Uhr morgens geöffnet, denn „es braucht nicht betont zu werden, dass Kommunikation […] nicht zeitlich zu begrenzen ist. Hinzu kommt, dass Theaterleute oft erst nach 1.00 nach Abstechern, Proben, Nachgesprächen, Essen in den ‚Club‘ kommen können“, hieß es in einem Antrag auf Sperrzeitverkürzung von 1973. „Die Clubräume waren an beiden Adressen klein. Spät am Abend bzw. am frühen Morgen kam man nicht mehr hinein, so voll war es dort. Das Publikum war jung, gemischt und sehr interessant. Da konnte man sich sehr gut unterhalten“, berichtete ein Zeitzeuge. Eine Zeitzeugin berichtete, sie sei zum ersten Mal hingegangen, um zu testen, ob sie vielleicht lesbisch sei, habe aber dann dort einen Mann kennengelernt, mit dem sie eine lange Beziehung hatte.
Zu den prominenten Gästen gehörten unter anderem die Jazz-Sängerin Inge Brandenburg (1929-1999), die Tänzerin Márcia Haydée (geboren 1937) vom Stuttgarter Ballett und der damalige Leiter des Tübinger Zimmertheaters, Salvatore Poddine. Für den Tübinger Helmut Kress war der Club, wie er im Video-Interview berichtete, „ein einziges Abenteuer. Und des war 'n lustiges Lokal, weil es gab keine Tische, keine Stühle damals, sondern nur ein großer Raum mit Teppich ausgelegt und viele, viele Sitzkissen. Und da es ein Privat-Club war, durften die auch keine Preise verlangen, sondern da war ein Kühlschrank, da waren so Bierflaschen drin, Weinflaschen drin, und daneben war so 'n kleiner Tresen, da stand großer Korb: Bitte Spenden. Und da hat man sich ein Bier rausgenommen, hat da halt das, was man gerade hatte, reingeworfen, weil sie durften keinen festen Preis verlangen. Weil sie ja keine Gastronomie in dem Sinne waren, sondern Privat-Club. Und naja, Privat-Club und die Zeit, da liefen halt dann auch so die Zigarettchen im Kreis, des war halt damals so in. Und da hat man natürlich auch mitgeraucht, ja, also nie starke Drogen oder so, aber so bissel Zigarettchen, ja.“
1972 brachten die Aussagen des jungen Tübingers Hans-Peter Konieczny den „Salon der Hundert“ ins Visier des Staatsschutzes und machten den Club bundesweit bekannt. Der Schriftsetzer hatte für kurze Zeit für die Baader-Meinhof-Gruppe Dokumente gefälscht und als Bote fungiert und war dann wieder ausgestiegen. Nach seinen Aussagen war er von einem Tübinger Rechtsanwalt angeworben worden, der das erste Gespräch mit ihm im „Salon der Hundert“ führte. Dem Aussteiger war der Ort suspekt, denn „dort trieben sich damals so exzentrische Spinner herum“, wie es in seinem im Magazin „Der Spiegel“ veröffentlichten Interview hieß. Bei den Tübinger Behörden hatte der „Salon der Hundert“ einen schlechten Ruf. Die Polizei vermutete auch nach 1973 Fürsprechende der Roten Armee Fraktion unter den Gästen, das Ordnungsamt sprach von einem „Etablissement“, und die Nachbarschaft beschwerte sich häufig über Nachtruhestörungen. Der „Salon der Hundert“ wurde mehrfach kontrolliert.
Jeanne trotzte den Kontrollen und versuchte, ihre Gäste zu schützen, wie aus einer Aktennotiz der Kriminalpolizei hervorging: „Das im Betreff genannte Lokal sollte am 26.01.1977 gegen 23.40 Uhr kontrolliert werden. Die mit der Kontrolle Beauftragten wurden von Frau Schönemann in den Vorraum eingelassen. Dort erklärte dann Frau Schönemann, daß sie niemand in die Geschäftsräume hineinlassen würde, da wohl keiner von den Herrn einen Vereinsausweis besitze. Frau Schönemann wurde vom Unterzeichner darauf hingewiesen, daß sie verpflichtet sei, berechtigte Personen in die Geschäftsräume zwecks Kontrolle einzulassen. Frau Schönemann erwiderte daraufhin, daß bisher Kontrollen tagsüber durchgeführt worden wären und sie deshalb nicht einsehe, daß in den Nachtstunden kontrolliert wird. Außerdem könne sie uns nicht einlassen, da die Vereinssatzung vorschreibe, daß nur Mitglieder berechtigt wären, die Räume des Clubs zu betreten. Daraufhin wurde Frau Schönemann vom Unterzeichner nochmals aufgefordert, den Zugang zu ihrem Lokal freizugeben. Da sie sich daraufhin erneut weigerte, wurde sie darauf aufmerksam gemacht, daß gegen sie eine Ordnungswidrigkeitsanzeige erstattet werden muß. Frau Schönemann erklärte, daß ihr dieses überhaupt nichts ausmache, und die Herren sollten 'nur tun, was sie für richtig halten'.“ Offenbar wurde in dieser Nacht von einer Kontrolle abgesehen, jedoch erhärtete sich der Verdacht, dass im Club Rauschgiftmissbrauch vorliege. Die Notiz schließt mit der Bemerkung: „Das Lokal wird deshalb in den nächsten Tagen vom Rauschgiftdezernat einer eingehenden Kontrolle unterzogen.“
Der „Salon der Hundert“ stellte 1977 alle seine Aktivitäten ein. Ob die Schließung der Clubräume und die Auflösung des Vereins auf Betreiben der Tübinger Behörden erfolgten, ist bislang nicht bekannt. Vor ihrem Tod im Jahr 2015 traf man „die schwarze Jeanne“ in Tübingen in weißer Kleidung an. Ihrem Stil blieb sie jahrzehntelang treu.