Rainer Willnauer (1939-2018)
Rainer Willnauer war in den 1960er-Jahren stadtbekannt als Wirt der „Palette“, später umbenannt in „Pub 13“. Das Lokal in der Belthlestraße war für lange Zeit das weit und breit einzige Lokal für Schwule und andere queere Menschen.
Willnauer wurde 1939 in Tübingen und machte eine Lehre in der väterlichen Sattlerei. Er nahm Zeichenunterricht bei einem Kunstmaler und studierte Gestaltung an der Merz-Akademie in Stuttgart. Das Studium brach er ab, als die Mutter erkrankte. Stattdessen half Willnauer im Geschäft, das nach ihrem Tod aufgegeben werden musste. Willnauer erhielt einen Teil des Doppelhauses in der Belthlestraße 11/13.
Als Hauseigentümer konnte Willnauer ein Lokal führen, das ganz nach seinen Vorstellungen war. Sein Vorbild war die Schwabinger Boheme-Kneipe „Bei Gisela“, die er von seinen Fluchten aus Tübingen kannte. Dort trat die Wirtin Gisela Jonas-Dialer mit Chansons auf, von denen viele auf dem Index waren. Nach diesem Vorbild eröffnete Willnauer 1962 seine „Palette“. Den Namen hatte er einem Szene-Lokal auf St. Pauli entlehnt, über das Hubert Fichte später einen gleichnamigen Roman schrieb.
„Palette“ – der Name war Programm und Signal: ein Künstlerlokal mit Ausstellungen, das einen Hauch von Schwabing und St. Pauli nach Tübingen bringen sollte und sich an Gäste wandte, deren sexuelle Orientierungen vielseitig sein konnten. Das bis 2 Uhr geöffnete Nachtlokal war für Tübingen und die Region eine echte Sensation. Von den einen wurde es begeistert angenommen, von den anderen entschieden abgelehnt. Die Behörden und die Nachbarschaft beäugten sowohl den Wirt als auch die Gäste misstrauisch.
Nach einem Brand in der „Palette“ eröffnete Willnauer in der Haushälfte Belthlestraße 13 den kleineren „Pub 13“, den er bis 1990 führte. Der Lokalname, vordergründig wegen der Adresse gewählt, diente auch als codiertes Signal an eine homosexuelle Kundschaft: 13 ist die Quersumme von 175, was sich auf Paragraf 175 bezieht. Dieser kriminalisierte bis 1969 jede Form männlicher Homosexualität und wurde erst 1994 ganz abgeschafft. Der Name war für viele ein wichtiges Indiz, in der Kneipe richtig zu sein. Zu den Gästen zählten Professorinnen und Professoren, Studierende, Leute aus der Nachbarschaft, Künstlerinnen und Künstler vom Landestheater und viele homosexuelle Frauen und Männer aus der ganzen Region.
Aus diesem Grund stand Willnauers Lokal bis Anfang der 1970er-Jahre im Fokus der Polizei. Die Gaststättenakte im Stadtarchiv zeigt, dass die Polizei dafür eng mit dem Ordnungsamt kooperierte: Bei polizeilichen Ermittlungen gegen Homosexuelle wurde das Amt immer wieder aufgefordert, genauer zu überprüfen, ob dem Lokal die Genehmigung entzogen werden kann.
Rainer Willnauer lebte zuletzt sehr zurückgezogen in der Tübinger Unterstadt. Die Nachbarn kannten ihn, weil er sich um verwahrloste Hunde und Katzen kümmerte. Für das Forschungsprojekt „Queer durch Tübingen“ konnte er im Oktober 2017 interviewt werden. Willnauer starb von der Öffentlichkeit fast unbemerkt am 13. November 2018.