Tübinger Stadtplan von 1876
1876 ist die Universitätsstadt Tübingen mit ihren damals 10.000 Einwohnern erst wenig über ihre mittelalterlich eng verwinkelte Altstadt hinausgewachsen. Die Notwendigkeit, neues Bauland zu erschließen, hat sich nur an einer Stelle in größerem Stil Bahn gebrochen: vor dem Lustnauer Tor. Dort war seit den 1840er Jahren die Wilhelmsvorstadt entstanden, deren Kern die Neue Aula darstellt. Das großzügig entworfene Raster der sich rechtwinklig kreuzenden Straßen ist jedoch 30 Jahre später erst ansatzweise bebaut. Nur die Achse der Wilhelmstraße ist tatsächlich ausgeführt und mit einigen Gebäuden bestanden. Die Silcherstraße ist immerhin schon existent, während die Gmelinstraße zwar schon benannt, aber längst nicht durchgeführt erscheint.
Deutlich sichtbar ist dagegen noch die mittelalterliche Landstraße, die wahrscheinlich sogar auf römische Zeiten zurückgeht. Sie meidet den Talgrund, bleibt stets nördlich der Ammer und lenkt den Verkehr bis hinüber zum Schmiedtor, das jahrhundertelang das Haupttor der Stadt darstellte. Erst die neue Wilhelmstraße machte das weniger bedeutende Lustnauer Tor zum wichtigen Verkehrsknoten in der Tübinger Topographie.
Außer der Wilhelmsvorstadt scheinen weitere projektierte Baugebiete die Altstadt zu umgeben. Vor allem im Westen und Süden sieht es so aus, als ob die Entwicklung schon vorgezeichnet sei. Doch keines dieser Projekte war von dauerhafter Gültigkeit. Es waren lediglich Vorschläge, deren Ausführung ungewiss war. Durch das Baugebiet im Westen schlängelt sich noch die hochwassergefährdete Ammer, und im Süden bedroht der unkorrigierte Neckar mit seinen ungebändigten Wassermassen jede Wohnbebauung. Nur wenig von dem, was Stadtgeometer Eberhardt auf seinem Stadtplan von 1876 vorschlägt, ist in dieser Form später verwirklicht worden. Immerhin versucht Eberhardt, der baulichen Entwicklung eine Struktur zu verleihen. Dies muß als beträchtlicher Fortschritt gewertet werden. Denn bis dahin waren neue Bauplätze eher zufällig aneinander gereiht worden.
Entlang den Ausfallstraßen hatte sich das Siedlungsgebiet krakenartig planlos ausgebreitet. Die Situation auf dem Wöhrd - damals auch Reutlinger Vorstadt genannt - entsprach mehr oder weniger der Entwicklung vor dem Haagtor. Lediglich in der Uhlandstraße hatte man rund um das Uhlanddenkmal zu einer städtebaulichen Lösung gefunden. Die Entwürfe von Christian Friedrich Leins sollten allerdings nie zu Ende gebracht werden und so blieb der freundliche, von noblen Häusern umstandene Platz, den Leins um das Denkmal herum vorgesehen hatte, bis heute an der Südwestecke offen.
Nur die Wilhelmstraße machte in der allgemeinen Planlosigkeit eine rühmliche Ausnahme. Die staatlich angeordnete Großzügigkeit des rechtwinkligen Straßenrasters verschaffte der Universität eine langfristig angelegte Perspektive. Die nähere Umgebung der Aula war aber nicht als Wohngebiet vorgesehen, sondern diente lediglich der wachsenden Hochschule als Reservefläche für viele Jahrzehnte. Erst im 20. Jahrhundert, lange nach dem Zweiten Weltkrieg, war sie endgültig aufgezehrt und zwang zum Auszuweichen auf die umgebenden Anhöhen.
Zwischen den wichtigen Baugebieten im Süden und Norden der Stadt liegt um 1876 die verwinkelte Altstadt, durch die sich jeder zwängen muss, der von der Universität zum Bahnhof will. Die Mühlstraße ist damals noch ein schmaler Graben, versperrt durch zwei große spätmittelalterliche Mühlen. Damit nicht genug hatte man im 19. Jahrhundert oben und unten den künstlichen Flaschenhals mit zusätzlichen Gebäuden verengt und die Passage mit Wagen schier unmöglich gemacht. Eine Lösung dieses Verkehrsproblems war vordringlich und für die weitere Entwicklung der Stadt entscheidend. Die notwendige Verbreiterung der Mühlstraße wurde deshalb schon zwischen 1885 und 1887 durchgeführt.
Ebenso wichtig war die Korrektion des Neckars und die damit verbundene Beseitigung der Hochwassergefahr auf dem Wöhrd. Stadtgeometer Eberhardt hat seine Vorschläge dazu bereits mit kräftigen Strichen eingezeichnet. Die hochwasserfreien Wiesen zwischen Uhlandstraße und Hauptbahnhof hat er als stadtnahes Baugebiet mit einem Straßenraster überzogen, das durch eine „Wielandstraße" erschlossen wird. Offensichtlich sollte die Kastanienallee diesen Plänen zum Opfer fallen. Nichts von dem ist erfreulicherweise realisiert worden. Der Wöhrd blieb bis heute als grüne Insel inmitten der Stadt erhalten. Die aufwändige Neckarkorrektion sollte noch mehr als 30 Jahre auf sich warten lassen und folgte schließlich einem völlig anderen Konzept.
Abbildung: Plan der Universitätsstadt Tübingen von Stadtgeometer Eberhardt 1876. Maßstab 1:5000. 35 x 35,4 cm. (= Beilage zu: Tübingen und seine Umgebung geschildert für Fremde und Einheimische. Tübingen 1876). Stadtarchiv Tübingen Bibliothek L12.