Tübinger Stadtplan von 1903
Tübingen zu Beginn des 20. Jarhunderts. Die Stadt hat sich nach allen Seiten ausgedehnt. Südlich der Bahnlinie ist eine kleine, von Industrie- und Militäranlagen geprägte Vorstadt herangewachsen. Links der Steinlach liegt der Hauptbahnhof von 1861. Südlich davon schließen sich die Dienstwohnungen der Eisenbahner an, vom Volksmund als "Zigeunerinsel" bezeichnet, eine Anspielung auf das fahrende Volk der Bahnbeschäftigten.
In der verlängerten Achse von Burse, Uhlanddenkmal und Bahnhof liegt die schon 1875 errichtete (Thiepval-) Kaserne. Ihr Hof wird links durch das Exerzierhaus und rechts durch die Garnisonsverwaltung begrenzt. Das hinter der Kaserne liegende Gebiet (Militär-, Friedrich- und Moltkestraße) erstreckt sich zum Teil bereits auf Derendinger Markung und ist damals noch unbebaut.
Rechts der Steinlach hat sich das in den 1890er Jahren von der Stadt projektierte Industrieviertel schon deutlich belebt. Einige Betriebe sind durch entsprechende Beschriftung im Plan hervorgehoben. An der Christophstraße liegen die Korsettfabrik von Albert Rupp, daneben die Metallwarenfabrik von Imanuel Zanker. An der Reutlinger Straße stehen eine Papierwarenfabrik und die Schweickhardtsche Essigfabrik.
In der Südstadt rauchen damals die Schornsteine, und zu den Industrieanlagen passen auch die hier beheimateten städtischen Versorgungseinrichtungen: das 1862 errichtete Gaswerk sowie das Wasserwerk von 1878. Es pumpte - von einer Dampfmaschine angetrieben - das im Neckarkies gewonnene Grundwasser zum Hochbehälter („Reservoir“) auf dem Österberg. Neben dem Wasserwerk ist schon der 1904 gestaltete Volksgarten, eine Parkanlage im Industriegebiet, erkennbar.
Nördlich der Bahngleise, auf dem Wöhrd, scheint die Entwicklung dagegen stillzustehen. Rechts der Steinlach liegt der von jeder Bebauung freigehaltene Exerzierplatz des Militärs. Er ist einer zivilen Nutzung nicht zugänglich. Links davon entlang der Uhland-, der Karl- und der Wöhrdstraße wurde die Bebauung in den Jahren zuvor lediglich etwas verdichtet.
Die spätmittelalterliche Neckarbrücke aus den Tagen des Grafen Eberhard ist verschwunden und hat einem modernen, breiten Betonbauwerk Platz gemacht. Die Achse der Brücke wurde dabei leicht gedreht. Sie führt jetzt unmittelbar auf die Mühlstraße zu. Deren Ausbau kam 1899 mit der Umgestaltung des Lustnauer Torplatzes endgültig zum Abschluss. Bei den umfassenden und großzügigen Planungen hatte man jede nur mögliche Weitsicht walten lassen. Querschnitt und Tragfähigkeit der neuen Brücke wurden so berechnet, daß sie für eine Straßenbahn ausreichend waren. Der weite Kurvenradius am Lustnauer Tor war ebenfalls für die spätere Verlegung von Gleisen ausgelegt.
Tübingen zählte kurz nach der Jahrhundertwende 16.000 Einwohner. Die Bevölkerung hatte seit der Reichsgründung bedeutend zugenommen und die starken Zuwachsraten schienen ungebrochen anzuhalten. Weitblick und Sorgfalt bei allen Projekten gehörte zu den großen Tugenden der Stadtplanung in jenen Tagen. Viele der damals großzügig getroffenen Entscheidungen machen heute den besonderen Reiz des Tübinger Stadtbildes aus: Das Wöhrd-Gelände wurde endgültig aus der Bebauung herausgenommen und bildet seither mit dem Anlagensee im Zentrum eine grüne Insel mitten in der Stadt.
Vorlage:
Plan der Stadt Tübingen nach amtlichem Material bearbeitet. Zeichn. Lit. u. Druck v. Wilh. C. Rübsamen, Stuttgart. Maßstab 1:5000. 60,7 x 75 cm. Stadtarchiv Tübingen D30/K2238.