Tübinger Stadtplan von 1927
1927 zur 450-Jahrfeier der Universität gab die Stadtverwaltung einen mehr als 200 Seiten umfassenden Band mit dem Titel „Die Tübinger Gemeindeverwaltung in den letzten 50 Jahren" heraus. Dieses Werk beschreibt mit tausenden von akribisch zusammengetragenen Einzeldaten die Tübinger Stadtentwicklung von der Reichsgründung bis in die mittleren Jahre der Weimarer Republik. Zur Illustration wurden ihm nicht nur zahlreiche Fotografien, sondern auch ein eigens erstellter Stadtplan beigegeben. Er zeigt farbig abgesetzt die Siedlungsentwicklung der Universitätsstadt bis in die damalige Zeit.
Graue Flächen markieren den Baubestand des Jahres 1877, der im wesentlichen mit der Altstadt identisch ist und sich noch ein Stück weit jenseits der Neckarbrücke in Richtung Bahnhof erstreckt.
Braun unterlegt sind die Gebäude, die bis 1897, also in der Amtszeit von Oberbürgermeister Gös, entstanden. Es handelt sich um etwa 300 private und öffentliche Bauwerke, die meist noch in unmittelbarer Nähe der Altstadt liegen. Hervorzuheben sind ein paar dichtere, siedlungsartige Gruppierungen, wie zum Beispiel die Häuser an der Belthlestraße, die großen Mietshäuser an der Olgastraße sowie die ersten Wohngebäude in der Südstadt rechts der Steinlach.
Mit einer zusätzlichen Schraffur versehen sind die öffentlichen Gebäude aus jener Zeit. Neben den zahlreichen Neubauten der Universität vor allem in der Wilhelmsvorstadt finden wir nur drei größere Projekte, die unter städtischer Bauherrschaft ausgeführt wurden: Der Realschulanbau auf dem Schulberg, die Mädchenvolksschule (Hölderlinschule) Am Stadtgraben und die Knabenvolksschule (Silcherschule) an der Kelternsstraße. Die Neubauten dienten den Bedürfnissen einer kräftig angewachsenen Bevölkerung. Von 1877 bis 1897 nahm die Einwohnerzahl von knapp 11.000 auf über 14.000 „ortsanwesende Personen" zu.
Der braunen Farbe der Amtszeit von Gös folgt im Stadtplan das leuchtende Rot der Ära Haußer. Es kennzeichnet die Gebäude, die seit seinem Amtsantritt 1897 in den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts hinzukamen. Der amtlichen Zählung zufolge waren es mehr als 830 Bauwerke, darunter diesmal eine stattliche Anzahl, die unter städtischer Regie entstanden waren. Hervorgehoben seien hier nur die drei großen Schulen an der Uhlandstraße, das Elektrizitätswerk an der Nonnengasse, das neue Gaswerk im Eisenhut sowie das Uhlandbad an der Karlstraße, das über eine moderne Fernwärmeleitung mit heißem Wasser versorgt wurde. Auch die Universität hatte ihre „Reserveflächen" in der Wilhelmsvorstadt genutzt. Zu vermerken ist vor allem die neue Universitätsbibliothek an der Wilhelmstraße. Das Militär - neben Universität und Gewerbe das dritte Standbein der Tübinger Stadtentwicklung - erhielt in der Südstadt eine weitere Kaserne (Lorettokaserne).
In den 30 Jahren der Haußerschen Amtszeit hat sich der Wachstums- und Modernisierungsprozess der Universitätsstadt noch einmal deutlich beschleunigt. Selbst der Erste Weltkrieg hielt diese Entwicklung nur für kurze Zeit auf. Die rege Bautätigkeit ging einher mit einem steilen Anstieg der Einwohnerzahlen von 14.000 Personen 1897 auf annähernd 22.000 im Jubiläumsjahr der Universität. In gleichem Maße hatte sich die Zahl der Studenten von rund 1.300 auf fast 2.800 erhöht.
Das seit 1877 anhaltende Wachstum zwang die Stadt zum kräftigen Ausbau ihrer Infrastruktur. Nach einer Berechnung des Stadtmessungsamtes von 1927 wurden in den 50 zurückliegenden Jahren etwa 20 Kilometer Ortsstraßen mit 36,6 Kilometer Gehwegen ausgebaut. Straßen, Wege und Plätze befestigte man mit 85.600 Quadratmeter Pflastersteinen und zur Versorgung der Haushalte verlegte man nicht weniger als 25 Kilometer Wasser- und 29 Kilometer Gasleitungen.
Nur die Entwicklung in der Südstadt entsprach nicht ganz den Erwartungen, die man ursprünglich gehegt hatte. In dem Stadtteil der ausgangs des 19. Jahrhunderts als Industrieviertel projektiert worden war und zunächst auch kräftigen Zuwachs erhalten hatte, dominierte im Laufe der Zeit immer mehr die Wohnbebauung.
Abbildung: Plan der Stadt Tübingen. Herausgegeben im Jubiläumsjahr der Universität 1927. Gedruckt von Wilh. C. Rübsamen GmbH Stuttgart. 70,5 x 93,6 cm. (=Beilage zu: Tübinger Gemeindeverwaltung in den letzten 50 Jahren. Tübingen 1927). Stadtarchiv Tübingen Bibliothek P 278.