Was erzählt die Tübinger Rathausfassade?
Meldung vom 15.07.2016
Die Sanierung der Rathausfassade ist abgeschlossen. Jetzt treten etliche Details zum Vorschein, die im Lauf der Jahre verblasst oder beschädigt waren. Die heutige Bemalung der Fassade geht auf das Jahr 1876 zurück. Anlässlich des 400-jährigen Jubiläums der Universität bekam Professor Conrad Dollinger damals den Auftrag, „eine der Altertümlichkeit desselben entsprechende Skizze anzufertigen“. Die Ausführung der Sgraffito-Malerei im zeitgemäßen Stil der Neo-Renaissance übernahm Ludwig Lesker. In warmen Braun-, Gold- und Grautönen gehalten, prägen allegorische Figuren und Porträts wichtiger Persönlichkeiten die Rathausfront, unterbrochen von gemalten Säulen, Wappen und anderem Zierrat.
Erster Stock: antike Göttinnen
Im ersten Stock stehen die antiken Göttinnen Justitia, Demeter und Athene für Gerechtigkeit, Ackerbau und Wissenschaft – möglicherweise ein Hinweis auf die Verbindung zwischen Stadt und Universität. Ebenfalls im ersten Stock befindet sich die Sprech-Kanzel, von der aus die Herzöge in früheren Jahrhunderten Huldigungen ihrer Untertanen entgegennahmen. Außerdem wurden von hier aus auch Beschlüsse und Satzungen der Stadt verkündet. Heute ist die Kanzel ein beliebter Ort für Hochzeitsfotos. An der Südostecke des Rathauses verweist eine kleine Holzschnitzerei – eine Bacchantin – auf die frühere Bedeutung des Weins als wichtige Erwerbsquellen Tübingens. Sie ist der älteste Schmuck der Fassade und stammt aus der Zeit um 1600.
Zweiter Stock: Bedeutende Tübinger
Im zweiten Stock dominieren die Porträts sechs bedeutender Tübinger das Bild. Konrad Breuning (um 1461-1517) war als Vogt von Tübingen maßgeblich am Tübinger Vertrag von 1514 beteiligt. Professor Johannes Osiander (1657-1724) war evangelischer Theologe und Diplomat. Er „rettete“ Tübingen 1688 vor den französischen Besatzern. Der Tübinger Bürgermeister Jakob Heinrich Dann (1720-1790) machte sich als Verfechter landständischer Rechte einen Namen. Johann Ludwig Huber (1723-1800) kämpfte für bürgerliche Freiheitsrechte und widersetzte sich ungerechten Steuerplänen. Johann Friedrich von Cotta (1764-1832) war ein bekannter Verleger, Buchhändler, Unternehmer und Politiker. Der Dichter Ludwig Uhland (1787-1862) war auch ein bedeutender Literaturwissenschaftler und Politiker.
Dritter Stock: Graf Eberhard im Bart
Über ihnen allen steht auf Höhe des dritten Stocks der populärste und bedeutendste Mann: Graf Eberhard im Bart (1445-1496). Er hat 1477 die Universität gegründet und 1495 die Erhebung seines Landes Württemberg zum Herzogtum erwirkt. Deshalb hält er in der einen Hand die Gründungsurkunde der Universität und stützt sich mit der anderen Hand auf das herzogliche Schwert.
Astronomische Uhr
Im Ziergiebel des Rathauses ist die astronomische Uhr aus dem 16. Jahrhundert untergebracht. Das unterste ihrer drei Zifferblätter, die Stundenuhr, ist umrahmt von den Wappen des Landes und der Stadt. Darüber befindet sich das astronomische Zifferblatt mit Symbolen der Tierkreiszeichen, flankiert von einer männlichen und einer weiblichen Figur als Allegorien von Tag und Nacht. Das oberste und kleinste Zifferblatt zeigt die Mondphasen an.
Versteckte Botschaft
Wer genau schaut, findet einen Hinweis auf den Kunstmaler Ludwig Lesker auf der Rathausfassade: Sein Name, mit dem er sich selbst verewigt hat, befindet sich selbstbewusst auf der Gründungsurkunde der Universität, die Graf Eberhard im Bart in seiner rechten Hand hält.
Baugeschichte
Erbaut wurde das Tübinger Rathaus 1435. Die älteste nachgewiesene Bemalung geht auf das 16. Jahrhundert zurück. Davon zeugen Reste an der Südseite. In den 1960er-Jahren wäre das Sgraffito von 1876 beinahe zerstört worden, hätte sich die Tübinger Bevölkerung nicht in letzter Minute gegen die geplante Neugestaltung gewehrt. Die letzte große Restaurierung der Rathausfassade erfolgte 1989. Damals wurden die Überreste einer Farbbeutelattacke entfernt.