Zur Bewertung von Straßennamen
In der Benennung von Straßen spiegeln sich die politischen und gesellschaftlichen Einstellungen, Wertmaßstäbe und Verhältnisse jener Zeit, in der sie vorgenommen werden. Die Urteile und Bewertungen, auf denen sie gründen, unterliegen selbst dem Wandel und werden ihrerseits zu Zeitzeugnissen. Personen, die in früheren Zeiten einer Ehrung mit einem Straßennamen würdig erschienen, sind heute aufgrund ihrer Einstellungen und Handlungen zum Beispiel in der Zeit des Kolonialismus oder des Nationalsozialismus in die Diskussion geraten – und damit die auf sie verweisenden Straßennamen.
Viele deutsche Städte beschäftigen sich daher seit einiger Zeit mit der Frage: Wie soll eine Stadtgesellschaft mit Straßenbenennungen umgehen, deren Namensgeber_innen in ihrem Verhalten nicht mehr heutigen Wertvorstellungen entsprechen und den gesellschaftlichen, ethischen oder politischen Maßstäben, die für uns heute selbstverständlich sind, nicht mehr genügen? Auch Tübingen hat sich mit solchen Fragen bereits befasst: 1992 wurde auf Beschluss des Gemeinderats die Robert-Gaupp-Staffel in Jakob-van-Hoddis-Staffel umbenannt. 2013 erhielt die Adolf-Scheef-Straße die Bezeichnung Fritz-Bauer-Straße. Über diese Namen hinaus gibt es weitere Straßennamen in Tübingen, die zumindest diskussionswürdig sind. Je nach Auswahl der Maßstäbe, die an diese Personen angelegt werden, fällt die Liste der Straßennamen kürzer oder länger aus.
Der Umgang mit solch diskussionswürdigen Straßenbenennungen ist also grundsätzlich zu klären. Der Gemeinderat beschloss daher 2021 eine vergleichende wissenschaftliche Aufarbeitung von diskussionswürdigen Straßennamen und die Einsetzung einer Kommission. Die Kommission, bestehend aus Historiker_innen, Archivar_innen und einem Soziologen, entwickelte Kriterien zur Einordnung und Beurteilung der einzelnen Fälle. Anhand dieser Kriterien gab sie Empfehlungen ab, ob die Benennungen der betroffenen Straßen heute noch aufrechterhalten werden sollen. Das Ergebnis der Arbeit der Kommission wurde abschließend den politischen Gremien – dem Gemeinderat und den Ortschaftsräten – vorgestellt. Diese Gremien trafen dann die politische Entscheidung über das weitere Vorgehen.
Der gesamte Prozess und die Debatte um die Umbenennung und Kommentierung von Straßen trugen insgesamt zu einer lebendigen Erinnerungskultur in Tübingen bei, sind gewissermaßen „ein Wert an sich“; sie entsprachen damit auch einer Intention von Verwaltung, Gemeinderat und Kommission. Allerdings geriet durch die Fokussierung der Debatte auf einen einzigen Namen, bei dem es lediglich um eine Kennzeichnung als diskussionswürdig ging, die eigentlich beabsichtigte Diskussion – nämlich die um die Umbenennung von Straßen, das Abwägen von Kriterien und Bewertungsmaßstäben bei der historisch-politischen Einordnung von kritischen Biografien, auch die politische Verständigung über eben diese Kriterien stark aus dem Blick. Eindeutige Täterbiografien und das öffentliche Sprechen über diese gerieten nahezu zur Nebensache. Aufgabe einer städtischen Erinnerungskultur – und damit sind alle Akteur_innen angesprochen – wird es daher unverändert bleiben, solche Diskussionen auf der Basis eines sachorientierten, wissenschaftsbasierten Diskurses weiterzuführen.